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Ostdeutsche FamiliengesprächeBorn in the GDR

Für ihr Buch „Die anderen Leben“ haben die Autorinnen ostdeutsche Familiengespräche aufgezeichnet. Es geht um Erfahrungen und Brüche im Leben.

„An die DNA Ostdeutschlands herangehen“: DDR-Museumswohnung in Magdeburg Foto: dpa

Dreißig Jahre ist das nun her, das historische Ereignis namens Wiedervereinigung, das bei genauerem Hinsehen eher in eine Richtung verlief: Die Ostdeutschen haben sich den westdeutschen Standards angepasst. Sie haben gesucht und getastet, haben gute und falsche Entscheidungen getroffen. Sehr oft waren sie nicht in der Position, überhaupt welche treffen zu können – es gab da dieses neue, alte Land, das seine eigenen Regeln hatte.

Wer mitmachen wollte, hielt sich besser an die Gepflogenheiten. Wer meinte, es auf seine und ihre Weise versuchen zu wollen, wurde sehr wahrscheinlich zum Wendeverlierer. Was für ein Wort.

Ein anderes Wort, das dieser Tage gern im Munde geführt wird, lautet Umbrüche. Es versucht zu fassen, was sich konkret vollzogen hat in den Leben jener, die Born in the GDR sind. Im politischen Raum wird ja gern Respekt eingefordert für diese Umbrüche. Aber was meint das eigentlich?

Ablagerungen in den Erinnerungsschächten

Das Buch

Sabine Michel und Dörte Grimm: „Die anderen Leben“. Bebra Verlag, Berlin 2020, 193 S., 20 Euro

Die beiden Regisseurinnen Dörte Grimm und Sabine Michel dringen mit ihren „Generationengesprächen Ost“ weit vor in die familiären Weißräume. Denn dort, in den Erinnerungsschächten, ist ja alles abgelagert. In ihrem Sammelband „Die anderen Leben“ sprechen DDR-sozialisierte Eltern und ihre Kinder miteinander über diese Erfahrungen.

Tatsächlich wird über diese Jahre vor und nach der Wende (noch so ein Wort) wenig geredet in den Familien. Die ostsozialisierten Kinder meinen, es habe doch alles einigermaßen geklappt. Keiner ist zu Schaden gekommen, alle haben ihren Platz gefunden. Viele Eltern beschweigen lieber ihre Erfahrungen. Zum einen, weil sie es satt haben, sich für ihre Ideen, ihre Irrtümer und Hoffnungen vor 1989 zu rechtfertigen. Zum anderen, weil sie ab 1990 die Erfahrung gemacht haben, dass Ostler zu sein Zweitklassigkeit bedeutet. Wozu bereden, was nicht gewertschätzt wird? Und warum an alte Wunden rühren?

Im alljährlich von der Bundesregierung herausgegebenen Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit haben 2019 die Hälfte der befragten Ostdeutschen angegeben, sich als Deutsche zweiter Klasse zu fühlen.

Das mag teilweise stimmen. Denn außer bei den sanierten Innenstädten hinkt der Osten in fast allen Kategorien hinterher. Ob beim Mindestlohn, bei den Konzernansiedlungen, den kommunalen Steuern oder in der Bildung – die Ostler sind zuverlässig hinten. Diese Zweitklassigkeit ist auch die Folie, auf der eine rechte Partei wie die AfD ihre Wahlerfolge produziert. Denn wer sich zweitklassig fühlt, muss nur noch bei seinen Minderwertigkeitsgefühlen abgeholt werden.

Michel und Grimm wollen es nicht dabei belassen. Für „Die anderen Leben“ gehen sie ans Eingemachte. Ob Anja und ihre Mutter Ingrid aus Dresden, ob die beiden Prignitzer Gerd und Michael oder die kurz vor dem Mauerfall geborene Sandra und ihre Mutter Annegret – das Miteinanderreden müssen alle erst probieren, damit es besser werden kann.

„Das wusste ich ja gar nicht.“

Umso erstaunlicher, was Eltern und ihre Kinder einander zum ersten Mal erzählen. Mehrfach fällt der Satz: „Das wusste ich ja gar nicht.“ Es geht um die genossenschaftlich organisierte Arbeit in der Landwirtschaft, um Frauen, die ihre Kinder sehr selbstverständlich allein großgezogen haben, um robuste Familienkonstrukte. Es geht um Misstrauen und Vertrauen in der Familie, aber auch um die kleine Freiheit ganz innen. Um berufliche und familiäre Brüche, sowohl vor als auch nach dem Mauerfall.

Sabine Michel und Dörte Grimm schreiben in ihrem Vorwort: „Wir brauchen generationenübergreifende, ehrliche Gespräche, die an die DNA Ostdeutschlands herangehen, in deren Diversität sich jede und jeder wiederfinden kann und die mit Schlagwörtern wie Stasi, Unrechtsstaat, Täter und Opfer nicht zu fassen sind.“

Beide wissen, wovon sie schreiben. Michel, Jahrgang 1971, hat 2018 mit ihrem viel beachteten Film „Montags in Dresden“ eindrucksvoll gezeigt, woher die fremdenfeindliche und hart rechte Pegida-Bewegung kommt. Was ihre Protagonisten unter anderem antreibt, ist das Ungehörtsein, das Nichterzählte also.

Dörte Grimm, geboren 1978 in Brandenburg, gehört der Generation der Wendekinder an. In ihrer Kindheit hat sie erlebt, wie ihre Mutter im Textilkombinat Wittstock erst hunderte KollegInnen entlassen musste, um am Ende selbst arbeitslos zu sein. Bis 2018 war Grimm im Vorstand von „Perspektive hoch drei“, einem Verbund jüngerer Ostdeutscher, die sich mit Identitätsfragen befasst. „Die anderen Leben“ wollen die beiden Autorinnen als Ermutigung zum Reden verstanden wissen. Als Anfang von etwas.

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3 Kommentare

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  • Zu einem Gespräch gehören mindestens zwei Leute. Wenn ein Mensch allein redet, ist das ein Selbstgespräch - oder ein Diktat.

    Ich glaube kaum, dass das Gefühl der Zweitklassigkeit, dass so viele Ostdeutsche empfinden und das für einen erheblichen Teil der aktuellen politischen Probleme verantwortlich ist, statistisch zu fassen ist. Statistiken zeigen nur die Folgen von Gefühlen auf, nicht ihre Ursachen. Ein einzelnes Buch auf einem unüberschaubaren Büchermarkt wird daran gar nichts ändern.

    Es geht nicht nur um die Gefühle der Ostdeutschen. Es geht vor allem um die Gefühle der Wessis. Zu viele der im Westen Sozialisierten haben immer noch das Gefühl, sie wären etwas besseres und hätten also einen Anspruch auf besondere Beachtung. Dieses Denken ist älter als das wiedervereinigte Deutschland. Es resultiert noch aus der Zeit des vermeintlichen Wirtschaftswunders und des „Westgeldes“. Es ist ein (relativ unverdientes) Geschenk der Ossis an ihre konsumverwöhnten Brüder und Schwestern im Westen. Nach der Wende ist es nicht etwa abgebaut worden, sondern weiter gewachsen. „Es war nicht alles schlecht“ war seinerzeit so etwas wie ein Running Gag und sollte das exakte Gegenteil bedeuten. Mit Leuten aber, die nichts wertvolles zu sagen haben, mag man nicht reden.

    So sind die Ossis auf den Mund gefallen, wenn auch vergleichsweise weich. Nicht einmal ihre eigenen Kinder wollen mit ihnen reden, weil die im neuen Deutschland ja noch „groß“ werden wollen. Und das, so haben sie gelernt, geht nur, wenn sie sich nicht mit Verlierern abgeben.

    Die Frage ist nur, was daraus folgt. Wer nicht weiß, was war, weiß nicht, was sein kann, heißt es manchmal. Ich denke, da ist etwas dran. „Der Westen“ wird an seiner Arroganz demnächst ersticken, schätze ich. Wer um‘s Verrecken (aller anderen) nichts lernen will aus dem, was andere erlebt haben, muss deren Schicksal nämlich früher oder später teilen, wenn vielleicht auch auf eine unerwartete Art und Weise.

  • Was, wenn es nicht um Städte geht, sondern um Seelen und Menschen?

    Äußerlich ist vieles angepasst, sicher - aber ungehört sind die Ossis dennoch.

    Die Analyse finde ich stimmig.

  • In welchem Deutschland lebt die Autorin?



    Gab es keine Vereinigung ehemals zusammengehörender dt. Einzelteile? War der Mauerfall, Währungsunion und Wiedervereinigung nicht eine Wende für die ehem. Ostdeutschen? War sie schon mal in der Uckermark, also außerhalb einer ostdeutschen Innenstadt, vor und nach dieser Wiedervereinigung und Wende? Ich kann es mir nicht vorstellen.