Organisatorinnen über Briefe an Inhaftierte: „Einen Safe Space schaffen“
Jail Mail vermittelt Brieffreundschaften zwischen Inhaftierten und Menschen in Freiheit. Manche suchen dabei Partner*innen, viele nur Austausch.
taz: Marie, Jana, ihr seid die Gründerinnen der Webseite Jail Mail. Dort können Inhaftierte aus Deutschland und der Schweiz seit knapp einem Jahr Kontaktanzeigen schalten, auf die sich Menschen von „draußen“ melden können. Ihr organisiert dann Brieffreundschaften.
Marie: Genau. Dazu muss man aber sagen, dass es schon vorher eine Jail Mail Seite gab, die aber 2021 nach so einer TikTok-Sache offline ging.
Einer TikTok-Sache?
M: Das war eine Art Social-Media-Trend. Junge Mädchen haben sich einen Spaß daraus gemacht, das Postfach mit Fake-Anfragen zu fluten, haben Brieffreundschaften mit Inhaftierten begonnen, um dann deren Briefe, Straftaten und Identitäten auf TikTok auszubreiten. Sie haben die ehrenamtliche Betreiberin der Seite mit Hassnachrichten überschüttet. Daraufhin hat sie Jail Mail eingestellt. Wir selbst hatten damals noch nichts mit der Seite zu tun. Mir ist nur irgendwann zufällig aufgefallen, dass es sie nicht mehr gibt. Das waberte mir tagelang durch den Kopf: Krass, jetzt gibt es in Deutschland einfach keine Alternative mehr für Inhaftierte. Das kann doch nicht sein! Irgendwann dachte ich: Na gut. Dann mache ich das jetzt eben.
Marie, 31, studiert Soziale Arbeit. An der Hochschule lernte sie Jana, 24, kennen, die seit ihrem Abschluss in einem Drogenkonsumraum arbeitet. Gemeinsam betreiben sie die Website jail-mail.de. Weil es in der Vergangenheit zu Angriffen auf Betreiber*innen vergleichbarer Seiten kam, treten sie nur unter ihren Vornamen auf.
Das klingt sehr hemdsärmelig.
M: Das war es auch. Ich habe als erstes Infobriefe an alle 179 Justizvollzugsanstalten in Deutschland geschickt und mein Vorhaben vorgestellt.
Und?
M: Es kam keine einzige Reaktion, null. Also habe ich es über die Gefängnisseelsorger*innen probiert, die ja einen guten Draht zu den Inhaftierten haben. Da kamen dann die ersten Briefe mit Inseraten. Und irgendwann stand etwas über das neue Jail Mail in der Gefangenenzeitung der JVA Tegel, die komplett von Insassen geführt wird. Dann ging es richtig los. Und seither kriegen wir Briefe über Briefe mit Inseraten. Seit Kurzem haben wir die erste Frau auf unserer Seite, was uns sehr freut. Und jede Woche erreichen uns allein 50 bis 80 Briefe an Inhaftierte.
Jana: Ich finde, diese Entstehungsgeschichte sagt schon viel über die Strukturen in deutschen Gefängnissen aus. Wer versucht, Kontakte zwischen „drinnen“ und „draußen“ zu fördern, kann sich auf die offiziellen Stellen nicht verlassen. Wenn man dort nachhakt, kommt keine Antwort oder es heißt: kein Bedarf. Da fragt man sich schon: Wer hat hier keinen Bedarf? Die Inhaftierten oder das JVA-Personal? Wer etwas erreichen will, muss also mit den Inhaftierten selbst in Kontakt treten. Vieles läuft dort selbstorganisiert.
Und wie genau funktionieren die Brieffreundschaften?
M: Im Regelfall schicken uns Inhaftierte einen kurzen Text, in dem sie sich vorstellen. Den stellen wir dann auf unsere Webseite. Stand jetzt haben wir dort 178 Inserate. Auf die können sich Menschen von „draußen“ melden und wir stellen den Erstkontakt her. Was danach passiert, ist den Schreibenden überlassen – ob sich also ein regelmäßiger Briefwechsel entwickelt oder nicht.
Aus Filmen und der Populärkultur kennt man sehnsüchtige Frauen, die sich im Briefwechsel in Serienmörder verlieben.
J: Ja, das ist das Klischee. Das ist aber nicht das, was wir mit unserer Seite erreichen wollen. Wir möchten keine Dating-Plattform sein. Und wir wollen nicht, dass sich Menschen, die eigentlich Lust haben, eine Brieffreundschaft mit jemandem in Haft zu führen, von einer solchen Vorstellung abschrecken lassen.
M: Deswegen haben wir auch ein paar Änderungen im Vergleich zum früheren Jail Mail vorgenommen.
Welche sind das?
M: Zum einen dürfen die Inserate keine sexistischen oder rassistischen Äußerungen enthalten. Darunter verstehen wir auch Kontaktgesuche, in denen es heißt: Ich suche weiblich, blond, Mitte 20, 90-60-90. Das kam anfangs nicht selten vor. Das ging so weit, dass Körbchengrößen beschrieben wurden.
J: Damit Inhaftierte ihr Gesuch trotzdem einschränken können, gibt es für sie Möglichkeiten zum Ankreuzen. Also, ich suche: männlich, weiblich, divers, egal. Es sollte bei einer Brieffreundschaft natürlich eigentlich egal sein. Aber oft ist es das eben nicht.
M: Und das ist ja auch verständlich. Wir haben beispielsweise mal einen Brief von einem Inhaftierten bekommen, der uns schilderte, dass er aufgrund von Erlebnissen in seiner Vergangenheit nicht von Männern angeschrieben werden möchte. Das respektieren wir. Abgesehen davon haben die meisten nun mal sehr viele männliche Kontakte in ihrem Gefängnisalltag. Da macht es Sinn, dass sie gerne mal etwas anderes möchten.
Welche Regeln gibt es noch?
M: Wir fügen den Inseraten keine Fotos mehr bei. Stattdessen können die Inserent*innen uns eine eigene Kreation schicken, etwas Gemaltes oder Gebasteltes. Ein Foto ihres Lieblingsbuches oder ein Bandcover. Da gibt es keine Grenzen.
Wieso das?
J: Um Chancengleichheit zu schaffen. Manche Inhaftierte möchten in diesem Kontext nicht mit ihrem Gesicht und dem vollen Namen auf der Website erscheinen. Diese Datenschutzbedenken können wir gut verstehen. Wir teilen sie sogar. Man sieht ja, was mit den Daten mancher Männer auf TikTok getrieben wurde. Diese vorsichtigen Inserent*innen, das ist unsere Erfahrung, bekommen aber deutlich weniger Briefe, wenn es gleichzeitig andere Kontaktanzeigen mit Foto gibt. Deshalb sorgen wir für gleiche Voraussetzungen für alle.
Ist das nicht ein wenig bevormundend? Vielleicht wollen Inhaftierte und Briefeschreiber*innen eben einfach eine Dating-Plattform mit Fotos und allem Drum und Dran.
J: Natürlich haben wir darüber diskutiert. Und es gab auch vereinzelt Menschen, die unsere Änderungen doof fanden und uns geschrieben haben, dass sie unter diesen Umständen nicht mehr auf Jail Mail erscheinen möchten.
M: Oder auch Frauen, die uns schrieben, dass sie die Fotos wieder haben möchten. Natürlich gibt es weibliche Briefeschreiberinnen, die explizit auf der Suche nach einem Partner im Gefängnis sind.
J: Wir schließen diese Menschen auch nicht aus. Aber wir möchten auch nicht die verschrecken, die aus anderen Gründen Briefkontakte suchen. Wir wollen einen Safe Space schaffen, in dem sich alle wohlfühlen. Letztlich machen wir das alles in unserer Freizeit. Wir sind keine Dienstleisterinnen, kein Unternehmen, das damit Geld verdienen will. Wir machen das aus Überzeugung. Deshalb wollen auch wir uns mit dem Projekt wohlfühlen. Für uns ist das soziale und politische Arbeit. Wir wollen, dass sich Menschen von „drinnen“ und „draußen“ kennenlernen. Was aus den Brieffreundschaften wird, liegt nicht in unserer Hand. Wenn Menschen sich verlieben, herzlichen Glückwunsch! Aber das ist nicht unser primäres Ziel.
M: Im Übrigen ist es ein Irrtum zu glauben, alle Inhaftierten suchten auf Jail Mail die Frau fürs Leben. Ich hatte erst diese Woche den Brief eines Inhaftierten, der sein Inserat verlängern wollte. Und er schrieb sinngemäß: Hoffentlich klappt es diesmal. Weil ihn zuletzt wohl zwei, drei Frauen kontaktiert haben, die eine Beziehung suchten. Er aber nicht. Er wollte nur Briefe schreiben. Darauf hätten alle den Kontakt abgebrochen.
Ein anderer Punkt, der sicher viele von einer Brieffreundschaft abhält, ist die Angst vor Straftäter*innen. Könnt ihr die nachvollziehen?
J: Wir verstehen diese Berührungsängste. Wie sollte es auch anders sein? Die Haftanstalten sind eine Welt, von der Bürger*innen in Freiheit völlig abgeschottet bleiben. So werden Ängste gesellschaftlich und politisch gefördert. Als seien das alles skrupellose Psychopath*innen und Sexualstraftäter*innen. Das ist nicht der Fall. Es gibt zu wenig Aufklärung, zu viel Scheu, zu viele Knäste überhaupt in Deutschland.
M: Viele Interessierte schreiben uns: Ist das nicht total gefährlich? Soll ich meine Adresse da jetzt angeben? Deshalb gibt es bei Jail Mail die Möglichkeit, einem Inhaftierten erst einmal anonym zu schreiben. Wir sagen: Probier' es doch einfach und finde erst einmal heraus, was für ein Mensch dahintersteckt, was er vielleicht gemacht hat, oder wie es dazu kam. Wir wollen Barrieren und Vorurteile langsam abbauen.
Wart ihr schon mal in einer Haftanstalt?
M: Ja, während eines Praxissemesters habe ich zwei Männer in Haft betreut.
Was war dein Eindruck?
M: Uff. Das war echt bedrückend. Gitter vor den Fenstern. Totale Abschottung. Wir sind über den Hof gelaufen, da riefen schon die Ersten aus den Fenstern. So nach dem Motto: Da bewegt sich was, da ist was Menschliches! Da könnte man Kontakt aufnehmen!
Sofort Interaktion.
M: Genau. Inhaftierte sollen bestraft werden. Darüber kann man streiten. Aber sie werden irgendwann auch wieder entlassen. Die Idee, jemanden zu isolieren und wegzusperren, mit dem Ziel, ihn zu resozialisieren – wie soll das funktionieren? Das ist ein Punkt, an dem wir ansetzen möchten. Wir wollen die Verbindung zwischen „drinnen“ und „draußen“ aufrechterhalten.
J: Es geht uns auch um eine generelle Kritik am Konzept Haft. Menschen werden inhaftiert dafür, dass sie ohne Ticket fahren, dass sie Beschaffungsdruck haben. Das gilt nicht für alle. Aber es gibt sehr viele Menschen in deutschen Haftanstalten, bei denen soziale Arbeit ansetzen müsste.
M: Dazu braucht es eine Verbindung zur Außenwelt. Nicht einmal Zuneigung, sondern einfach Kontakt. Die Einsamkeit ist oft sehr groß. Einer schrieb mir, er sei nun seit drei Jahren inhaftiert und für seine Familie und alten Freunde quasi tot. Er würde einfach gerne wieder mal wissen, dass sich jemand für ihn interessiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs