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Oppositionelle in Belarus freigelassen„Das ist keine Gerechtigkeit“

Der ehemalige belarussische Präsidentschaftskandidat Tichanowski berichtet: Vor seiner Freilassung habe das Regime ihn zwangsernährt – für die Kameras.

Ihm kommen die Tränen: Auf einer Pressekonferenz in Vilnius erzählt Sergei Tichanowski von seiner Zeit im Gefängnis in Belarus Foto: Ints Kalnins/reuters

Vilnius taz | Ein hagerer, ausgezehrter Mann mit einem breiten Lächeln tritt in einem Konferenzsaal in Vilnius ans Mikrofon. Innerhalb einer Minute ist er von Tränen überwältigt. Es ist Sergei Tichanowski, ehemaliger Präsidentschaftskandidat in Belarus und Ehemann der im Exil lebenden Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja. Nach fünf Jahren in einem belarussischen Gefängnis kann er an diesem Sonntag zum ersten Mal wieder vor die Öffentlichkeit treten.

Die Freilassung von Tichanow und dreizehn weiteren politischen Gefangenen kam völlig überraschend. Sie fiel zeitlich mit einem Besuch des Sonderbeauftragten des US-Präsidenten Donald Trump, Keith Kellogg, beim belarussischen Machthaber Aleksander Lukaschenko zusammen. Warum der Diktator sich entschlossen hat, seinen persönlichen Feind Tichanowski freizulassen, bleibt offen.

Tichanowskis emotionale Schilderung seines Lebens im Gefängnis – oder akkurater gesagt: seines Überlebens unter unmenschlichen Bedingungen – ist ein eindringliches Zeugnis dafür, wie das Lukaschenko-System mit seinen Gegnern umgeht. „Das Regime ist brutal“, sagt er unter Tränen. „Wahnsinnige und Mörder sitzen in Nachbarzellen und schauen fern. Das ist keine Gerechtigkeit. Das ist ein System, das darauf ausgelegt ist, die Würde zu zerstören.“

Vor etwa einem Monat habe man begonnen, ihn zwangsweise zu ernähren

Tichanowski ist überzeugt, dass er Teil eines politischen Spektakels geworden ist. Während politische Gefangene im Gefängnis sterben und andere körperlich und seelisch gebrochen freigelassen werden, posiert Lukaschenko vor den Kameras und prahlt mit seiner „Menschlichkeit“. „Wenn der Lukaschenkoismus nicht gestoppt wird, werden diejenigen, die die Wahrheit suchen, noch stärker unterdrückt werden“, betont er.

Tichanowskis Kinder erkannten ihn nicht wieder

Er erzählt: Der schwerste Moment nach seiner Freilassung sei das Wiedersehen mit seinen Kindern gewesen. Als er darüber spricht, kann er seine Tränen nicht zurückhalten. „Sie standen vor mir … und erkannten mich nicht. Sie sahen mich nur an wie einen Fremden. Fünf Jahre sind für ein Kind eine Ewigkeit.“

Trotz seiner schwierigen emotionalen Lage hat Tichanowski diejenigen nicht vergessen, die weiterhin Geiseln des Lukaschenko-Regimes sind. Seinen Angaben zufolge wird der kommende Monat entscheidend sein. Denn Tichanowski berichtet von Insiderinformationen, nach denen alle politischen Gefangenen freigelassen werden könnten. All dies sei Teil der Verhandlungsmasse des Diktators – der alles daran setzen werde, diese Menschen so teuer wie möglich zu „verkaufen“. Im Gegenzug wolle er die Aufhebung der Sanktionen gegen Belarus erreichen.

Das Regime wird die Freilassungen als großzügige Geste des guten Willens und als Wunsch nach Annäherung an den Westen präsentieren. Tichanowski betont: Seine Freilassung sei vorbereitet worden; vor etwa einem Monat habe man begonnen, ihn zwangsweise zu ernähren, damit er vor den Kameras so auftreten könne, als sei ihm nichts zugestoßen. Aber selbst das half nicht – statt wie der stattliche, große Mann, als den ihn viele Belarussen vor seiner Inhaftierung im Jahr 2020 in Erinnerung hatten, sah er aus wie ein Häftling aus dem Gulag.

Das Gleiche geschieht mit politischen Gefangenen, die noch auf ihre Freilassung warten. Jede Minute, die sie unter unmenschlichen Bedingungen verbringen, zerstört ihre Gesundheit und ruiniert ihre Psyche. Deshalb muss jeder freie Mensch Tichanowskis Appell hören: „Seien Sie nicht gleichgültig gegenüber dem Unglück anderer, sprechen Sie darüber. Und vergessen Sie nicht, dass Schweigen und Gleichgültigkeit töten“.

Aus dem Englischen Lisa Schneider

Alexandrina Glagoljewa ist Journalistin aus Belarus und lebt heute im Baltikum im Exil. Sie ist Alumni der Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.

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4 Kommentare

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  • Autokraten sind Roboter des Unrechts, der Gewalt, der Rücksichtslosigkeit. Leider finden sie immer wieder Knechte, die das schmutzige Handwerk, die Zerstörung von Menschen, ausführen. Hoffentlich wird der Tag kommen, da Herr L. auf der Anklagebank sitzt.

  • Entsetzlich, was politischen Gefangenen immer wieder angetan wird. Gruselig.

  • So hat Trump wenigstens den einen Vorteil dass sogar solche Diktatoren einknicken wenn Donald sich nur ganz dezent räuspert...

    • @Bolzkopf:

      Kaum anzunehmen, dass es etwas mit Trump zu tun hat oder gar positiv für Trumps egomanische Hazard-Politik zu verbuchen wäre. Eher damit, dass Lukashenkos Ego mehr Aufmerksamkeit braucht...



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