piwik no script img

Opfer zu 10 Jahren NSU-Selbstenttarnung„Bin ich Deutscher zweiter Klasse?“

Anlässlich des 10. Jahrestags des NSU-Auffliegens diskutieren Betroffene rechten Terrors. Sie fällen ein vernichtendes Urteil über die Behörden.

Abdulkerim Şimşek bei der Einweihung des Enver-Şimşek-Platzes Foto: Timm Schammberger/dpa

Berlin taz | Es ist wenige Tage nach dem 4. November 2011, als Abdulkerim Şimşek im Radio erfährt, wer seinen Vater Enver tötete. Es sind zwei Thüringer Neonazis, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die sich nach einem gescheiterten Bankraub erschossen, und ihre Komplizin Beate Zschäpe. Der selbsternannte „Nationalsozialistische Untergrund“.

Er habe sich geärgert, das aus dem Radio zu erfahren, sagt Abdulkerim Şimşek am Mittwochabend in Berlin. „Aber als das rauskam, fiel eine Riesenlast von meinen Schultern. Denn jetzt war endlich anerkannt, dass mein Vater ein unschuldiger Mensch war.“

Elf Jahre lang zuvor war das anders. Am 9. September 2000 war Enver Şimşek an seinem Blumenstand in Nürnberg von zwei Unbekannten erschossen worden. Und jahrelang hatte die Polizei Şimşeks Familie selbst verdächtigt und dem Vater Drogenhandel oder Mafiageschäfte vorgeworfen. „Die Ermittlungen gingen nur gegen uns“, sagt Şimşek. „Das kann ich der Polizei nicht verzeihen.“

Der 34-Jährige spricht am Mittwochabend auf einem Podium der Amadeu Antonio Stiftung anlässlich des 10. Jahrestags der Selbstenttarnung des NSU-Terrors. Zehn Morde verübten die Neonazis, drei Anschläge und 15 Raubüberfälle – es ist bis heute die schwerste Rechtsterrorserie der Bundesrepublik. Mit auf dem Podium sitzt Mehmet O., der den ersten Sprengstoffanschlag des NSU überlebte, am 23. Juni 1999 auf seine Bar „Sonnenschein“ ebenfalls in Nürnberg. Dazu NSU-Opferanwalt Mehmet Daimagüler, Armin Kurtović, dessen Sohn Hamza beim Anschlag von Hanau ermordet wurde, und Christina Feist, Betroffene des Halle-Anschlags. Und sie alle fällen an diesem Abend ein harsches Urteil über die Polizei und die Konsequenzen aus dem Rechtsterror in diesem Land.

„Postmortales Racial Profiling“

Abdulkerim Şimşek erinnert daran, wie die Polizei nach dem Mord an seinem Vater seine Mutter immer wieder verhörte, ihr gar eine uneheliche Geliebte ihres Mannes vorgaukelte, um sie aus der Reserve zu locken. „Dabei waren wir uns sicher, dass das Motiv aus der rechten Ecke kommt.“ Selbst bei der Urteilsverkündung im NSU-Prozess in München habe sich das Gericht nicht an die Betroffenen gerichtet, so Şimşek. „3.000 Seiten und mein Vater kommt als Mensch nicht vor.“ Şimşek beklagt zudem, dass bis heute Helfer des NSU nicht ermittelt seien. Der Prozess, die Untersuchungsausschüsse – „es hat alles nichts geholfen“.

Mehmet Daimagüler ist Anwalt von Angehörigen der Nürnberger NSU-Opfer Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar. Und auch er wirft den Ermittlern schwere Fehler vor. Im Fall Şimşek hätten diese ein „postmortales Racial Profiling“ begangen. An der Polizeipraxis habe sich bis heute nichts geändert, Racial Profiling existiere bis heute. „Es ist auch nach dem NSU viel zu wenig passiert. Die Realität ist die gleiche wie vor zehn Jahren“, kritisiert Daimagüler.

Wenn Bundesinnenminister Horst Seehofer heute die NSU-Aufarbeitung lobe, sei das „nicht nur politisch und juristisch falsch, sondern auch gefährlich“, so der Anwalt. Denn der CSU-Mann suggeriere „eine Scheinsicherheit“, die es für Betroffene rechter Anfeindungen weiter nicht gebe. „Und die zahlen die Rechnung dafür.“

Auch Mehmet O., der verletzte Betreiber der „Sonnenschein“-Bar, beklagt, dass die Polizei ihm nach dem Anschlag Fragen nach Schutzgeld, Drogengeschäften oder Versicherungsbetrug gestellt habe. „Aber es war eine ganz normale Pilsbar. Ich hatte keine Feinde.“ Selbst als im NSU-Prozess offenbar wurde, dass die Rechtsterroristen auch den Anschlag auf sein Lokal verübten, sei er darüber nicht von der Polizei, sondern von Journalisten informiert worden. „Alles, was ich will, ist eine Entschuldigung“, sagt Mehmet O.

Auch Christina Feist, die beim Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019 in der Synagoge war, kritisiert, dass Polizeibeamte mit den Gläubigen unsensibel umgegangen seien, vom Judentum und der Jom Kippur-Feier an dem Tag „keine Ahnung“ gehabt hätten. Selbst noch als Zeugen im Prozess zu dem Anschlag seien sie „nicht gesprächsbereit“ gewesen. Die Forderung von Feist: Man dürfe nicht mehr länger darüber diskutieren, ob es ein Antisemitismus- und Rassismusproblem in Deutschland gebe. „Das gibt es. Und dagegen muss jetzt sofort etwas passieren.“

Auch in Bezug auf Hanau Kritik an der Polizei

Armin Kurtović, Hinterbliebener des Hanau-Anschlags, erinnert schließlich daran, wie Ermittler sich auch dort zweifelhaft verhielten. So sei in der Todesurkunde seines Sohnes ein „orientalisch-südländisches“ Aussehen vermerkt worden – obwohl dieser dunkelblond und blauäugig gewesen sei. Ihm selbst habe man einen Dolmetscher und den Ausländerbeirat geschickt, obwohl er in Deutschland aufgewachsen und deutscher Staatsbürger sei. Und der Vater des ermordeten Deutschrumänen Vili Viorel Păun habe sich von Polizisten antiziganistische Sprüche anhören müssen. „Die Fehlerkultur, von der man immer redet, ich sehe da gar nichts“, sagt Kurtović. „Bin ich Deutscher zweiter Klasse? Bin ich es nicht wert geschützt zu werden?“

Auch Mehmet Daimagüler sagt, er könne Rassismus nicht mehr akzeptieren. Taten wie die des NSU, in Hanau oder in Halle würden stets „isoliert“ – „als hätten sie mit dem Rest des Landes nichts zu tun“. Solche Taten seien aber die Folge gesellschaftlicher und politischer Diskurse. Bis heute werde ein Teil der deutschen Bevölkerung nicht gleich behandelt. „Das Grundgesetz ist ein totes Papier, wenn es nicht gelebt wird“, sagt Daimagüler. „Was ich möchte, ist echte Teilhabe und Veränderung.“

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • „Bin ich Deutscher zweiter Klasse?“



    Ja, für viele. Und ebenfalls für viele bist Du noch nicht einmal Deutscher. Da kannst Du Pässe, Geburtsurkunden, und Steuerbescheide haben, was die deutschen Behörden hergeben. Diese Menschen werden Dich nie als das anerkennen, was Du bist, nämlich ein gleichberechtigter Teil unserer Gesellschaft.

    Das ist die traurige Realität! Und ich kann nur hoffen, dass diese, und wenn nur ganz tief versteckt in ihrem Herzen, Rassisten nicht die Mehrheit darstellen. Aber manchmal kommt es mir so vor.

  • Kommentar entfernt. Bitte beachten Sie die Netiquette.

  • 8G
    82286 (Profil gelöscht)

    Herr Litschko, bleiben Sie dran ...

  • Hallo Konrad,



    ein Artikel, der sehr bedrückend macht. Mir bleibt nur zu sagen, ich dachte, wir wären weiter. Ein kleiner Fehler ist mir aufgefallen: "Die Forderung von Feist: Man dürfe nicht mehr länger darüber, ob es ein Antisemitismus- und Rassismusproblem in Deutschland gebe." Es fehlt ein Verb im Satzteil nach dem Doppelpunkt; ich vermute es war ein "diskutieren".