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Oper über TodesstrafeEin Mörder als Ersatz-Jesus

Eingängig und eindringlich, ohne in den Kitsch abzugleiten: Jack Heggies Oper „Dead Man Walking“ in Braunschweig.

Famose Sängerin: Isabel Stüber Malagamba als Schwester Helen Prejean Foto: Thomas M. Jauk/Stage Picture

Zwischen digitalisiertem Arbeitsalltag und sozial isoliertem Haushaltsalltag wirkt derzeit ein Opernabend als klassisches Kraftwerk der Gefühle noch besser als vor Corona. Ab und an werden dabei sogar gesellschaftlich relevante Themen verhandelt. Das Staatstheater Braunschweig setzt dafür gern auf zeitgenössische Werke US-amerikanischer Komponisten, weil ihnen Hollywood-Erzählweisen und der Broadway näher sind als postpostdramatische Diskurse und Donaueschingen mit seinem Festival der Neuen Musik.

Auf Jake Heggie trifft das ideal zu. In seinem 2000 uraufgeführten Opern-Debüt „Dead Man Walking“ kompiliert er ohne stilistischen Eigensinn längst durchgesetzte Ausdrucksmittel der Musikgeschichte für eine Handlung, die sich mit der Todesstrafe beschäftigt. Und mit der Dialektik von Schuld, zu der sich bekannt und für die Verantwortung übernommen werden muss, damit Reue und Vergebung möglich werden.

Terrence McNally verfasste das Libretto nach dem gleichnamigen Buch der St.-Josephs-Ordensschwester Helen Prejean, das bereits in Tim Robbins Verfilmung (1995) für Furore gesorgt hat. Die Nonne begleitete zum Tode Verurteilte an ihren letzten Tagen vor der Hinrichtung. Aus den Erfahrungen fiktionalisierte sie den Roman mit sich als Protagonistin.

Die Oper beginnt mit der Untat. Während im Orchestergraben das Leitmotiv des Abends ausformuliert wird, attackieren White-Trash-Kids ein junges Liebespaar in einer 3-D-Wald-Fototapete. Ein wenig steif, nach Art des geschmackvoll distanzierten Rea­lismus, so sind Vergewaltigung und Doppelmord inszeniert. Das ist natürlich etwas geschmacklos, denn die schier grenzenlose Brutalität müsste auch auf optischer und akustischer Ebene eine künstlerisch wirksame Entsprechung finden.

Die nächsten Aufführungen

Dead Man Walking wieder am 19. 2., 19.30 Uhr, Staatstheater Braunschweig. Termine bis Ende Mai

Anschließend aber kommt Regisseurin Florentine Klepper zu einer klaren, die psychische Überforderung aller Figuren unvoreingenommen fokussierenden Erzählweise. Und sie kann dabei auf ein famoses Sängerensemble zählen, das auch darstellerisch beeindruckt.

Die Nonne (Isabel Stüber Malagamba) im Freizeitkleid singt erst mal einen Gospel, um zu zeigen, wie sicher sie sich in ihrer vorschriftsmäßigen Liebe zu Jesus fühlt. „Mörder sind auch Gottes Kinder“, mit dem Statement wird das Thema des Abends vorbereitet. Als Prejean dann den als Brieffreund kennengelernten Täter des Prologs, Joseph de Rocher, im Gefängnis erstmals besuchen und das als spirituelle Reise zur Festigung ihres Glaubens feiern will, schmilzt sie vor Angst, wie sie singt. Und trifft auf einen mit den Knien schlotternden, fahrig rauchenden und großmäulig mackernden Typen. Im Wortsinne Todesangst schwitzt er aus und schämt sich, seiner Familie mit der Exekution weiteres Leid zuzufügen.

In der durchaus würdevollen Darstellung durch Michael Mrosek wird er für Prejean immer mehr zum Ersatz-Jesus. Da dem zum Tode verurteilten Mann am Kreuz nicht mehr zu helfen ist, wird eben de Rocher bekümmert. Er nutzt die Zuneigung und kitzelt Liebestriebe mit Rock-’n’-Roller-Zitaten, spricht von Erregung und Sex, während das Orchester erotisch flirrende Klänge spendiert.

Prejean nimmt das kokett entgegen, bleibt aber selbstbewusst keck und humorvoll. Währenddessen reißen um sie herum die Gefangenen des Todestraktes ihr Maul mit Sexismen auf, treiben Sport oder schleichen im stilisierten Gitternetzbühnenbild herum, das Delinquenten und Besucher trennt.

Vor der letzten Berufungsgerichtsverhandlung trifft Prejean auf die tief verletzten, daher unversöhnlichen Eltern der Opfer. Emotional nachvollziehbar aus ihrer Perspektive ist das unbarmherzige Ja zur Todesstrafe. Gerade dieser Mörder, „dieses Monster“, das sich selbst als „really bad“ bezeichnet, habe es doch wohl nicht verdient zu leben.

Dem widerspricht nun ebenso verständlich die Mutter des Täters, die in ihrem Kokon aus Armut und Verzweiflung rückhaltlos ihre Hilflosigkeit heraussingt, wie ihr der geliebte Sohn in Gang-kriminelle Gesellschaft entglitt, seine Schuld sei groß. Aber rechtfertigt das staatlichen Mord? Und muss darüber 2022 in Deutschland diskutiert werden?

Ein umstrittenes Thema

In knapp der Hälfte aller Staaten weltweit ist die Todesstrafe noch Teil des Strafrechts, in Deutschland-West allerdings 1949, in Deutschland-Ost 1987 abgeschafft worden. Widerspruchsfrei? Laut einer 1949 veröffentlichten Umfrage des Allensbach-Instituts befürworteten damals 74 Prozent der westdeutschen Bevölkerung die Todesstrafe, 2001 waren es noch 46 Prozent laut einer Forsa-Umfrage, 2018 sollte ein Formulierungsrelikt pro Hinrichtung aus der Verfassung des Bundeslandes Hessen gestrichen werden und 16,8 Prozent votierten bei einer Volksabstimmung dagegen. Auch wenn Hessen nicht Niedersachsen ist: Von überwältigendem Konsens kann bei dem Thema keine Rede sein, es daher auf die Bühne zu heben, ist also richtig und wichtig.

Nur der katholisch bigotte Duktus stört in Braunschweig. Im Angesicht des Todes lässt der Mörder von seinen Unschuldsbeteuerungen ab, gesteht die Tat, bittet um Vergebung und mit Sister Prejean an seiner Seite könnte man die Todesspritzen-Zeremonie nun als christlichen Büßergang verstehen, der von den Sünden reinigt.

Zum Glück gibt die Inszenierung nicht nur dieser Sichtweise Recht, sondern stellt auch moralisch klar: So eiskalt de Rocher gemordet hat, so eiskalt reagiert nun der Staat, aber mit einer humanistischen Gesellschaft ist das nicht zu vereinbaren. Das wird in Braunschweig dank der Suggestivkraft von Jake Heggies Filmmusikrhetorik mit einem vollen Pfund Rührung serviert. Eingängig und eindringlich zu sein, ohne in den Kitsch abzugleiten – eine Gratwanderung, die der Produktion bestens gelingt.

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