Die Qual liegt im Warten

Exekution in Pantoffeln: Tim Robbins hat mit „Dead Man Walking“ einen Film über die Todesstrafe gedreht, der in den USA die Diskussion über Rache und Gerechtigkeit selbst im Internet beschäftigt  ■ Von Andrea Böhm

Matthew Poncelet ist kein Mensch, dem man die Hand reichen möchte – schon wegen des Hakenkreuzes, das auf seinen Unterarm tätowiert ist. Er haßt Schwarze, mag Adolf Hitler und Fidel Castro und würde in seinem zweiten Leben gern als Terrorist auf die Welt kommen, um Regierungsgebäude in die Luft zu sprengen. Timothy McVeigh läßt grüßen.

Poncelet hat in diesem Leben, das in wenigen Stunden in der Exekutionskammer des Staatsgefängnisses von Louisiana beendet werden soll, einen jungen Mann ermordet, dessen Freundin vergewaltigt und zugesehen, wie diese von seinem Komplizen mit siebzehn Messerstichen und zwei Kopfschüssen getötet wurde. Kurz vor seinem eigenen Tod scheint seine Hauptsorge allein darin zu bestehen, daß er bei der Exekution seine Springerstiefel anbehalten darf.

Sean Penn spielt Matthew Poncelet, die filmische Fusion aus zwei realen Personen: Den beiden Todestraktinsassen Pat Sonnier und Robert Willie. Beide wurden in den achtziger Jahren im US-Bundesstaat Louisiana wegen Mordes zum Tode verurteilt und exekutiert. Helen Prejean, eine katholische Nonne aus New Orleans, stand beiden bis zur Hinrichtung als „spiritual advisor“, als Seelsorgerin, zur Seite. Ihr 1993 erschienenes Buch „Dead Man Walking“ schildert die Begegnung mit Sonnier und Willie, mit den Angehörigen der Mordopfer, den Gefängniswärtern und Exekutionskommandos. Was die Washington Post als die „wichtigste Stellungnahme gegen die Todesstrafe seit Albert Camus“ pries, erregte so viel Aufsehen, wie ein Buch in diesen Zeiten eben erregen kann. Auf der Wirkungsskala der Massenmedien ist das nicht viel.

Nun hat Tim Robbins, Schauspieler, Regisseur und Inkarnation des bei „Republikanern“ so verhaßten Mitglieds der „liberalen Kulturelite“, das Buch verfilmt. Neben Penn spielt Robbins' Lebensgefährtin Susan Sarandon die zweite Hauptrolle als Helen Prejean. Ry Cooder und Eddie Vedder zeichnen neben anderen für die Filmmusik verantwortlich. Bruce Springsteen, Suzanne Vega, Patti Smith, Tom Waits und andere haben eine CD zum Film herausgebracht. Die Kinos sind voll. Die Kritiker überschlagen sich vor Lob. MTV strahlt täglich Interviews mit dem Regisseur, den Schauspielern und Prejean aus. Man munkelt von Chancen auf einen oder mehrere Oscars. Online- Anbieter veranstalten Umfragen zur Todesstrafe, auf dem Internet wird diskutiert. Und die kleine, radikale Minderheit der organisierten Todesstrafengegner reagiert fast verdutzt auf ihre „five minutes of fame“, die ihnen mit der PR- Welle für „Dead Man Walking“ beschert werden.

Möglich, daß Robbins gar einen Trend begründet hat. Bei der Verleihung des „Golden Globe“-Filmpreises am letzten Sonntag verkündete eine selig babbelnde Sharon Stone, die gerade die Trophäe für ihre Hauptrolle in Martin Scorseses „Casino“ eingeheimst hatte, daß sie in ihrem nächsten Film eine Todestraktinsassin darstellt.

Paradoxerweise ist „Dead Man Walking“ ebenso eine Provokation der Gegner wie der Befürworter der Todesstrafe. Immer wieder schiebt Robbins in den Countdown zu Poncelets Exekution Szenen des grausamen Mordes an den beiden Jugendlichen ein. Rückblenden zeigen, wie der Mörder bei seinem Prozeß die Eltern der Opfer verhöhnt. Dem Teufelskreis aus Haß und Trauer, in dem sie seit dem Tod ihrer Kinder gefangen sind, gibt Robbins fast mehr Raum als der Lebensgeschichte Poncelets, der im ländlichen Süden in einer Kombination aus bitterer Armut, Alkohol und Drogen großgeworden ist. Als „white trash“ titulieren manche Amerikaner diese Landsleute. Sean Penn macht es einem dank seiner exzellenten schauspielerischen Leistung schwer, Mitleid oder gar Sympathie für Poncelet zu erwecken. Er kreiert vielmehr das Gegenbild zu Mumia Abu-Jamal, dessen Image als Politaktivist und Opfer einer rassistischen Justiz im letzten Jahr sämtliche PEN-Clubs zu Protestresolutionen veranlaßte.

Das zumindest hat amerikanische Filmkritiker bei allem Lob für „Dead Man Walking“ irritiert. Ebenso wie Krzysztof Kieslowskis „Ein kurzer Film über das Töten“ lasse „Dead Man Walking“ eine klare Polemik gegen die Todesstrafe vermissen, monierte die New Republic. Man frage sich manchmal, schrieb das Wall Street Journal, „was Tim Robbins wirklich zu dieser Frage denkt.“

Nun hat Robbins noch nie einen Hehl daraus gemacht, daß er für die Abschaffung der Todesstrafe ist. Gerade deswegen haben vielleicht viele einen polemischen Film erwartet. Aber, sagt er, „ich wollte keinen Film machen mit einem sympathischen Kerl, dem die Exekution droht, obwohl der vermutlich unschuldig ist. Das ist zu einfach.“ Es wäre auch Prejeans Buch nicht gerecht geworden. Ihr „Augenzeugenbericht über die Todesstrafe in den USA“ ist die schnörkellose Chronologie einer Frau, die zwar aus religiösen Gründen die Todesstrafe ablehnt, aber recht ahnungslos der Bitte eines Insassen um rechtliche Hilfe und Beistand folgt. In den folgenden Monaten lernt sie nicht nur einiges über Rassismus und soziale Diskriminierung im amerikanischen Gerichtssystem, sondern auch über die „andere Seite“.

Da sind die Wärter aus dem Exekutionskommando, die sich entweder in emotionale Abstumpfung, Alkoholismus oder in die Unausweichlichkeit der Hinrichtungsmaschinerie flüchten. „Ich bin nur zuständig für das Anschnallen des linken Beins“, sagt einer. Da sind die Eltern der ermordeten Teenager. „Sie wollen diesem Monster bei seinem Tod die Hand halten?“ fragt ein Vater fassungslos. „Sind Sie schon einmal auf die Idee gekommen, daß wir Ihre Hilfe brauchen könnten?“ ruft der andere. Diese Szenen sind im Buch eindringlich beschrieben und im Film eindringlich gespielt. Einzig Sarandon verliert manchmal an Profil, weil sie allzu oft mit einem ratlosen, tränenerstickten „I am really sorry“ reagiert.

In dieser von Robbins so betonten Ausgewogenheit liegt – auf den ersten Blick – die einzige Schwäche des Films. Er will mit aller Kraft deutlich machen, daß der Schrei nach Rache und Vergeltung eine völlig legitime menschliche Regung nach dem Mord an einem geliebten Menschen ist. Er selbst sei wohl zu einer Vergeltungstat fähig, „gestand“ er der Washington Post in einem Interview. Aber das ist nicht der Punkt. Bei der Todesstrafe geht es – abgesehen von der Diskussion um Fehlurteile und Diskriminierung – um die Frage, ob ein zivilisierter Staat seine Strafjustiz am Rache- und Vergeltungsbedürfnis der Bürger ausrichten darf. Die Antwort darauf lautet klar und deutlich: Nein.

Doch vor dem Hintergrund der amerikanischen Debatte um das Thema mag diese Schwäche zur Stärke werden. Unter Staatsanwälten und Politikern ist es mittlerweile salonfähig geworden, Plädoyers für die Todesstrafe primär mit dem Vergeltungsbedürfnis der Angehörigen von Mordopfern zu begründen. Von Prejean eindrücklich beschrieben und von Robbins ebenso eindrücklich inszeniert, erweist sich die Sehnsucht, mit der die beiden Elternpaare der Opfer auf Poncelets Exekution wie auf den Tag der Erlösung warten, als grausamer Selbstbetrug. Sie sehen der Hinrichtung durch eine Glasscheibe zu (was neben Louisiana auch andere Bundesstaaten den Angehörigen von Mordopfern gestatten).

Am Ende ist das Objekt ihres Hasses tot, die Trauer bleibt, die Leere wird noch größer – und eine dritte Familie, die von Poncelet, ist in denselben Teufelskreis gerissen worden. Zuletzt braucht es keine exklamatorische Aussage gegen die Todesstrafe. Es reicht das untrügliche Gefühl, daß alle Beteiligten und Augenzeugen von diesem staatlich sanktionierten Tötungsakt entmenschlicht worden sind.

Pat Sonnier und Robert Willie sind auf dem elektrischen Stuhl exekutiert worden. Louisiana hat inzwischen wie fast alle 38 Bundesstaaten, in denen die Todesstrafe existiert, seine Hinrichtungsform „humanisiert“ und die Todesspritze eingeführt. Robbins läßt Poncelet auf solch „humane“ Weise sterben. Doch der weiß längst, welch grausamer Todeskampf ihm bevorsteht. „Zuerst ist die Lunge dran“, sagt er zwischen zwei Zigarettenzügen mit nurmehr mühsam hochgehaltener Macho- Maske. Die erste Betäubungsspritze macht für die Augenzeugen unsichtbar, was sich im Körper des Verurteilten abspielt: Ein langsamer Erstickungstod – herbeigeführt durch Muskellähmung.

Im Film ist diese Szene frei von jeder Effekthascherei, auch frei vom Voyeurismus des pseudo- aufklärerischen Dokumentarfilms „Executions“, der letztes Jahr in Großbritannien für Aufruhr sorgte. Robbins hat sich vielmehr darauf beschränkt, den reibungslosen Ablauf einer solchen Hinrichtung ganz protokollgetreu abzudrehen. Nichts hätte die Perversion dieses hochtechnisierten Rituals eindrucksvoller darstellen können.

Menschenrechtsorganisationen rechnen mit über 70 Hinrichtungen in diesem Jahr – ein „Rekord“, seitdem der Oberste Gerichtshof der USA die Todesstrafe 1976 nach einem kurzen Moratorium wieder für verfassungskonform erklärte. Kinofilme verändern nicht die Realität, aber sie nehmen Einfluß auf ihre Wahrnehmung. Robbins hat – wenigstens für ein paar Wochen – die Annahme widerlegt, wonach die Praxis der Todesstrafe nur noch Aufsehen erregt, wenn besonders makabre Begleitumstände zu vermelden sind. Zum Beispiel aus dem Bundesstaat Utah, wo morgen ein Verurteilter durch eine Gewehrsalve exekutiert werden soll und die Behörden Hunderte von Freiwilligen für das Erschießungskommando abwimmeln mußten.

Für ein paar Wochen – immerhin – zerstört der Film auch das Zerrbild, das jeder Staat und jede Gesellschaft zur Legitimation der Todesstrafe braucht: daß es sich bei den Verurteilten nicht um Menschen, sondern um Monster handelt. Poncelet aber bleibt Mensch – auch und gerade in den Momenten, in denen er besonders hassenswert erscheinen will. Dessen sind sich auch die Wärter bewußt, die ihm am Ende die Stiefel wegnehmen und ihn in Hausschuhen zur Hinrichtung schleifen. Ganz nach Vorschrift marschiert einer vorweg und verkündet mit lauter Stimme: „Dead man walking.“

„Dead Man Walking“. Regie: Tim Robbins; mit Sean Penn, Susan Sarandon u.a.; USA 1996, 150 Min.