Open Mike in Berlin: Heimatsuche im Heimathafen
Beim 31. Open Mike war in Berlin-Neukölln junge Literatur zu hören. Die Texte kreisen um Tod, Familie und Natur. Und dann ist da noch dieses seltsame Loch.
Am Ende wurde es dann nochmal ganz still im Heimathafen Neukölln. Niemand im Publikum verlagerte knarzend sein Gewicht auf dem sparsam gepolsterten Gestühl, als Anile Tmava mit klarer, druckvoller Stimme ihren Gedichtzyklus „gift./. hysterie“ vorlas, der die Verhältnisse im Kosovo des Jahres 1990 thematisiert. Ganz still, das ist bemerkenswert, weil die Zuschauer*innen zu diesem Zeitpunkt schon 20 weitere Texte junger Autor*innen gehört hatten.
Beim mittlerweile 31. Open Mike erhielten am Wochenende knapp zwei Dutzend schreibende Menschen unter 35 Jahren die Gelegenheit, ihre Prosa und Lyrik vorzutragen. Zuvor hatten sie sich gegen mehr als 500 weitere Einsendungen durchgesetzt. Der Open Mike gilt als einer der wichtigsten Preise für Nachwuchsliteratur.
Die Texte der Finalist*innen, nicht länger als 15 Minuten, behandeln ganz unterschiedliche Themenkomplexe: Familie und Liebe, klar. Aber auch der Tod spielt in mehreren Texten eine Rolle. So beantworten Anja Gmeinwieser und Mario Schemmerl auf ganz unterschiedliche Weise, was selbstbestimmtes Sterben bedeutet – mit dem Stand-Up-Board den Fluss hinunter vielleicht? Besser als im Altenheim, glaubt man dem als Pfleger arbeitenden Schemmerl.
Auffällig ist die geringe Anzahl postmigrantisch geprägter Texte. Eigentlich ist da nur Miedya Mahmod mit dem Langgedicht „Hinter vorgehaltener Zunge schweigen wir oder Die Destinationale“, vorgetragen atemlos und mit eigentümlicher Sprechmelodie. Plötzlich lag ein Hauch von Poetry Slam in der Luft, nur dass Mahmods Text qualitativ besser ist als die meiste Slam-Poesie: „Wenn es in deiner Hand läge.
Eventuell, nur falls du eine zur Hand hast, würde ich dich, vielleicht,
also, wenn es eh in
deiner Hand läge, nach einer Heimat bitten“, grübelt Mahmod am Anfang und wird dann im Verlauf des Textes glaubwürdig immer wütender.
taz-Publikumspreis
Den taz-Publikumspreis gewann Susanne Romanowski mit ihrer humorvoll absurden Kurzgeschichte „Die Heimsuchung“. Zu dem Preis gehört ein Abdruck des Textes in der taz; er wird demnächst kommen. Ein bisschen fühlt man sich an Marlen Haushofers „Die Wand“ erinnert, nur dass die Wand bei Romanowski ein gigantisches Loch in der Berliner Millenial-Wohnung ist; und das wächst bedrohlicherweise beständig.
Die Hauptjury, bestehend aus Shida Bazyar, Senthuran Varatharajah und Anja Zag Golob, kürte am Ende drei Gewinner*innen: Salvatore Calanduccia mit seinem christlich-kitschigen „Marta Dei“, Kenan Kokić mit seiner sogartigen Erzählung „Parkbankgroßeltern“ und Miedya Mahmod. Drei Autor*innen, die als weitestgehend unbekannt gelten müssen. Aber genau darum geht es dem Open Mike ja auch, er will Türöffner sein für junge Stimmen. Für viele ist es der erste Kontakt mit dem Literaturbetrieb.
Beinahe folgerichtig gingen Studierende der Schreibschulen in Hildesheim und Leipzig leer aus, auch wenn sich ihre Ausbildung in der handwerklichen Qualität der Texte durchaus bemerkbar machte. Bei Eva Burmeisters „Habicht“ etwa, die kunstvoll eine Familie auf dem Land inszeniert und dabei en passant patriarchale Verhältnisse und das Mensch-Natur-Verhältnis verhandelt.
Der Habicht hat eines der familieneigenen Hühner gerissen und was macht man nun, um den Rest der Schar zu schützen? Kann der charismatische grünäugige Tischler mit Macherattitüde helfen, das Hühnergehege zu überdachen? „Vielleicht tut es auch ein Hahn“, entgegnet der nur.
Mensch-Natur-Verhältnis
Überhaupt, das Mensch-Natur-Verhältnis – auffällig viele Texte beschäftigen sich mit dem Anthropozän und seinen Folgen. Lisa James etwa holt in ihrer Gedichtsammlung „kalkstadt“ Wörter zutage, wie man sie sonst nur in Geologie-Vorlesungen erwarten würde und gießt sie in Lyrik: Von Schichten, Sediment, Kieselsäure ist die Rede und vom Sickern durch den Karst.
Mindestens drei verschiedene Beschreibungen von Grashalmen finden sich in den weiteren Texten, am stärksten beschäftigt sich Teilnehmerin Beatrix Rinke mit der Zerstörung der Natur und ihrer Konservierung im digitalen Raum. „Landschaftssimulation“ heißt ihre Erzählung und ob sie das Zittergras tatsächlich flüstern gehört hat, wird erst klar, als sie die Lautstärke ihres Computers erhöht.
Die naturalistischen Schilderungen von Flora und Fauna geschehen meist in dystopischer Manier, über allem liegt die drohende oder schon geschehene Zerstörung des Natürlichen.
Draußen, vor den Pforten des Heimathafens im regnerischen Neukölln sind die Spuren der Nahostdebatten der letzten Wochen sichtbar. Vor diesem Hintergrund wirkte die Veranstaltung mit den schon lange fertiggestellten, oft nur untergründig politischen Texten unverschuldet entrückt, wie ein mit zarten Zwischentönen besetztes Ufo schwebend über der rauen Weltlage.
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