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Ohne Netz durch die Krise

Selbsthilfegruppen konnten von den Corona-Lockerungen noch nicht profitieren. Für Süchtige und Menschen mit psychischen Problemen fällt ein wichtiger Rückhalt weg

Von Lotta Drügemöller

Herbert Gärtner stöhnt auf bei der Frage nach Selbsthilfegruppen. „Wenn Sie wüssten, was ich gerade an Telefongesprächen habe, abends und nachts“, sagt er. Gärtner ist Mitglied und Leiter beim „Freundeskreis“ in Gröpelingen, einer Selbsthilfegruppe für trockene Alkoholiker. Für Suchtkranke sei die Coronakrise besonders schlimm, sagt er: Alltagsstrukturen brächen weg, Sozialkontakte ebenfalls, obendrein fielen die Meetings aus. „Einsamkeit ist tödlich für Alkoholiker“, so Gärtner. „Die Einsamkeit ist zu 90 Prozent ausschlaggebend dafür, dass jemand wieder zur Flasche greift.“

„Selbsthilfegruppen stärken das Selbstbewusstsein, fördern soziale Kontakte und geben Orientierung und neuen Halt“, heißt es auf der Homepage der Bremer Gesundheitsbehörde. Und: „Sie sind ein wichtiger Teil des Gesundheitssystems.“ Doch während Museen Kirchen, Boutiquen und Kneipen öffnen, gibt es für Selbsthilfegruppen noch keinen Fahrplan zurück in die Praxis.

Dass jedes Land andere Regeln hat, ist verwirrend. „Wenn es die Nachricht gibt, dass sich im Saarland bis zu fünf Personen treffen dürfen, geht bei uns hier das Telefon los“, erzählt Sabine Bütow vom Netzwerk Selbsthilfe, für viele erste Anlaufstelle. Antworten hat sie momentan aber oft selbst nicht.

Die Gruppen bieten Alternativen an. Bei vielen gibt es neben Telefonaten zwischen einzelnen Mitgliedern auch Telefon- und Videokonferenzen. Der bundesweite Chat im „Freundeskreis Sucht“ ist besser besucht als je zuvor. Auch das Netzwerk Selbsthilfe unterstützt: Bütow und ihre Kolleg*innen haben sich einiger ernster Fälle persönlich angenommen, jede*r ruft drei bis vier Personen mehrmals pro Woche an.

Gärtner glaubt, dass all das hilft. Ersetzen aber könne es den persönlichen Kontakt nicht. Er berichtet von einem rückfälligen Alkoholiker aus seiner Gruppe, der jetzt mehr als sechs Wochen auf eine Therapie warten müsse. „Der lange Raum zwischen Entgiftung und Therapie ist immer ein Problem“, so Gärtner. Jetzt sei es aber noch schwerer, die Zeit zu überbrücken. Er könne einem betrunkenen Anrufer am Telefon kaum helfen. Und bei denen, die nicht anrufen? „Ja, das weiß ich natürlich erst recht nicht“, sagt Gärtner.

Auch ein Mitglied der „Emotions Anonymous“, die in ihren Treffen über Ängste, Depressionen oder Wut sprechen, macht sich Sorgen um jene, die Probleme nicht kompensieren können. Schließlich gebe es zusätzliche Schwierigkeiten: Werkstätten seien geschlossen, Betreuer könnten teils nicht mit Betreuten unterwegs sein. Als Gläubiger will er darauf vertrauen, dass Gott lenkt und die meisten Mitglieder kreative Lösungen finden. „Aber es sind schon ganz, ganz schwere Zeiten.“

Bütow vom Netzwerk Selbsthilfe will nicht drängen: „Eine Pandemie fordert ernste Maßnahmen. Aber wenn ich einen Wunsch hätte an die gute Fee, dann wäre das eine reduzierte Öffnung“, sagt sie. Die zuständige „gute Fee“ wäre vermutlich Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Die Linke). Sie sagt: „Häufig bilden Selbsthilfegruppen einen Anker im Leben. Dieses wichtige Angebot lebt auch vom persönlichen Austausch.“ Digitale Alternativen könnten es nicht komplett ersetzen. Einen Plan für die nahe Zukunft der Gruppen hat die Behörde trotzdem nicht. Es gibt in der Rechtsverordnung schlicht keine Stelle, die Lockerungen für Selbsthilfegruppen mitdenkt. Man wolle das Thema aber „mitnehmen“, sagt Lukas Fuhrmann, Sprecher der Senatorin.

„Einsamkeit ist tödlich für Alkoholiker“

Herbert Gärtner, Freundeskreis Gröpelingen

Wer akute Probleme hat, kann sich derweil stationär in ins Krankenhaus Bremen-Ost einweisen lassen. Die Sorge, die klinischen Kapazitäten könnten nicht ausreichen, kann Jens Reimer, Leiter des Zentrums für Psychosoziale Medizin, entkräften. Im Gegenteil sei es vergleichsweise ruhig auf der Station. Möglicherweise kämen die Menschen aus Angst vor Ansteckung nicht in die Klinik. Wichtig ist dem Arzt daher eine Entwarnung: Für mögliche Coronafälle gebe es eine eigens isolierte Station, eine Ansteckung sei daher unwahrscheinlich.

Schwieriger als die Aufnahme neuer Fälle sei es, Genesene sicher zu entlassen in eine Welt mit weniger Hilfsangeboten. Im Bremer Osten besuche der ambulante psychiatrische Dienst „BravO“ Menschen zu Hause; das Angebot soll auf andere Stadtteile ausgeweitet werden.

Das Netzwerk Selbsthilfe plant schon für den Zeitpunkt, an dem es eine Regelung gibt. So könnten sich zumindest im größten Raum des Netzwerkes bis zu zehn Leute mit Abstand versammeln. „Dann könnten sich wenigstens die drängendsten Fälle treffen“, so Bütow.

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