Ohne Lobby: Pflegende: „Alter, halt' durch“
Für seinen behinderten Sohn Nico geht Arnold Schnittger auch in den Sitzstreik. Doch was wird, wenn er nicht mehr da ist? Ein Protokoll.
Wenn das Kind 18 wird, ist das so das Alter, wo man es loslassen müsste, unter normalen Umständen. Dann geht das Kind aus dem Haus, heiratet, oder will eine eigene Wohnung haben. Bei Eltern behinderter Kinder ist das der Augenblick, wo man überlegt, gebe ich das Kind, mein Kind, ins Pflegeheim oder nicht. Das schaffen viele nicht, ich zum Beispiel auch nicht, und das ist eine ganz kritische Sache. Es gab in der Vergangenheit viele schreckliche Ereignisse, wo die Eltern, meist die Mutter, schon hochbetagt ihr 40-, 50-jähriges Kind noch versorgen, sie klappt irgendwann zusammen und dann sitzt das Kind neben der Leiche oder beide begehen Selbstmord. Da muss man sehen, dass man den Absprung und das Loslassen rechtzeitig realisiert.
Nico hat einen ganz besonderen Zuwendungsbedarf, ich bin überzeugt, dass er den in einem Heim nicht bekommt, bei allem Wohlwollen, das hängt mit der Profitorientierung zusammen. Da kam plötzlich die Idee, wie wäre es mit einem Bauernhof und man macht es mit mehreren Eltern und baut ein Konstrukt, das die Kinder auch im Alter versorgt sind. Daher auch der Name „Nicos Farm“. Dann habe ich aber sehr schnell festgestellt, dass wir dazu viele Familien brauchen.
Ich wandere ja immer wieder mit Nico, um auf die Situation pflegender Angehöriger aufmerksam zu machen. Als wir zum Bodensee gewandert sind, kamen wir durch Amelinghausen, da kam der Bürgermeister auf uns zu und hat uns zum Kaffee eingeladen. Er sagte: Ich habe ein Grundstück und so eine Einrichtung wie Nicos Farm suche ich schon seit Jahren für meine Gemeinde, guckt euch das doch mal an.
Wir hatten zu der Zeit noch einen Baubetreuer, einen älteren Herrn, mit allen Wassern gewaschen, der wollte uns dabei unterstützen. Im ersten Anlauf sind wir kläglich gescheitert. Die N-Bank, die hat sich unser Konzept angesehen, klar, das finanzieren wir. Dann haben wir, das hat zwei Jahre gedauert, alles entwickelt, ein Projekt von zehn Millionen. Wir haben das der Bank vorgelegt, die prüfte ein halbes Jahr und sagte: Wir haben vergessen, euch zu sagen, dass ihr natürlich einen Bürgen braucht. So, wo kriegen wir jetzt einen Bürgen her für zehn Millionen Euro?
„Machmal beiße ich in die Tischkante“
Ich habe alle möglichen Mäzene angesprochen, Otto-Versand, Herrn Kühne und so weiter, haben alle dankend abgelehnt. 14 Tage später lese ich in der Zeitung, dass einer von denen dem HSV zehn Millionen Euro geschenkt hat. Wir haben versucht, andere Investoren zu finden, das ist uns leider nicht gelungen. Inzwischen gibt es eine neue Bürgermeisterin in Amelinghausen, wo man uns jahrelang das Grundstück bereit gehalten hat und da ich immer nicht in die Puschen gekommen bin und es nicht geregelt bekam, haben sie gesagt, jetzt verkaufen wir das an einen anderen Investor.
Manchmal beiße ich auch in die Tischkante. Meine Energie, die hole ich mir von Nico, ohne ihn hätte ich schon längst hingeschmissen. Da hätte ich gesagt: Kommt Leute, wenn ihr mich nicht unterstützt, dann müsst ihr sehen, wie ihr klar kommt. Das kann ich aber nicht machen, die Frage ist immer noch, was wird mit Nico, wenn ich nicht mehr bin.
Er war schon als Baby immer fröhlich, aber er hätte anfangen müssen, zu robben oder sich zu bewegen, das hat er alles nicht gemacht, nur in der Ecke gesessen und sich schlapp gelacht. Dann geht man zum Kinderarzt, ach, da ist alles in Ordnung, Spätzünder, dann machen wir ein bisschen Frühförderung, dann kommt das schon. Ja, kam aber nicht. Nach einem Jahr war ziemlich sicher, dass irgendetwas faul ist, dann haben wir Untersuchungen durchgeführt, aber alles ohne Befund, möglicherweise hat Nico zu wenig Sauerstoff bei der Geburt gekriegt.
Man muss sich, wenn man ein behindertes Kind hat, alles erarbeiten. Die meisten fallen erst mal, wenn das Kind die Diagnose hat, in ein tiefes Loch. Wissen gar nicht, wo sie hingehen sollen, welche staatlichen Hilfen gibt es, wo kann ich Anträge stellen, das sagt einem keiner. Wenn ich zum Amt gehe und sage, ich habe ein behindertes Kind, dann zucken sie mit den Schultern. Da ist keiner, der sagt: Mensch, du kannst Verhinderungspflege beantragen oder dies oder jenes. Wenn man ein behindertes Kind kriegt, braucht man einen guten Kinderarzt und einen guten Rechtsanwalt, das ist so die Grundausstattung.
Ein Gutachten: das Kind ist immer noch behindert
Es war sehr nachteilig, dass Nicos Mutter sehr krank geworden ist, sie konnte nicht mehr arbeiten, war in der Klinik und in der Reha, und ich konnte dann auch nicht mehr arbeiten, und dann ging es los mit der Behördenwillkür. Unsere Gesellschaft ist immer noch darauf ausgelegt, dass die Mutter alles tut. Die Mutter muss die Kinder versorgen, wieso denn der Vater.
Jetzt habe ich Rente, jetzt bin ich fein raus. Aber die ganzen Jahre mit Hartz IV musste ich alle halbe Jahre ein Gutachten vorlegen, dass das Kind immer noch behindert ist und mich fragen lassen, warum ich nicht arbeite. Gehen Sie neben der Pflege doch zur Arbeit, hieß es. Das ist nicht eine Sache, die mich allein betrifft, sondern das betrifft alle pflegenden Angehörigen. Ich hatte noch das Privileg, dass Nico Pflegegrad fünf hat, da steht man dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung. Wie auch, bei einer 24-Stunden-Pflege. Das Amt möchte es aber trotzdem. Dieser Druck, der da aufgebaut wird, immer mit dem Hinweis auf Sanktionen.
Mit Hartz IV hatte ich 4,60 Euro am Tag für Frühstück, Mittag-, Abendessen, da kann man keine großen Sprünge machen. Es wirkt sich bis ans Lebensende aus. Dadurch konnte ich keine Rentenbeiträge zahlen. Ein bisschen ist durch die Pflegekasse reingekommen, aber das reicht nicht aus, um eine anständige Rente zu bekommen.
Man muss sich alles neu erkämpfen. Die haben gesagt, ihr könnt einen Rollstuhl beantragen und dann geht man zur Krankenkasse und dann sagen die: eine Karre genügt auch.
68, hat bis zur Geburt seines Sohnes Nico als Fotograf gearbeitet. Seitdem kümmert er sich um seinen Sohn. 2008 gründete er den Verein „Nicos Farm“, der für Nico und andere Kindern mit Behinderung eine Heimat schaffen soll, wenn die Eltern das nicht mehr können. Außerdem ist er Initiator der Facebook-Gruppe „Die Pflegerebellen – Wir lassen es nicht mehr zu!“. Einmal pro Monat hält Schnittger vor dem Hamburger Rathaus eine Mahnwache.
Wenn man in eine Behörde kommt, ist nicht die Frage, was können wir für Sie tun, sondern erst mal: Stimmt das auch, haben Sie überhaupt ein Kind, ist das wirklich behindert. Es ist ein Misstrauensverhältnis.
Keine Reha für geistig Behinderte
Nicos Reha ist mit der Begründung abgelehnt worden, er sei geistig behindert. Damit kann man jede Kur bei einem geistig behinderten Kind knicken. Da habe ich mich fürchterlich geärgert. Er hatte vorher eine OP und dann so tierische Schmerzen. Dann habe ich die Ärztin bei der Staatsanwaltschaft angezeigt. Wegen Körperverletzung, Verstoß gegen die ärztliche Sorgfaltspflicht, gegen die Menschenwürde, Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention. Vom Staatsanwalt kam zurück, Körperverletzung sei es nicht, weil sie ihm ja nicht auf die Nase gehauen hat, für die Menschenwürde sei er nicht zuständig. Ich weiß nicht, wer für die Menschenwürde zuständig ist.
Dann habe ich mich bei der Ärztekammer beschwert, die haben die Ärztin zumindest aufgefordert, Stellung zu nehmen. Da hat sie gesagt, sie hätte das Pflegeprotokoll durchgelesen und festgestellt, er sei geistig behindert, mehr müsse sie nicht machen. Deswegen habe ich meine Gruppe „Pflegerebellen“ gegründet, wir lassen es nicht mehr zu, ich sage es mal negativ, ich hetze die Leute auf, dass sie sich wehren.
Dann bin ich zur Krankenkasse gegangen und habe gesagt, die Reha ist abgelehnt worden, dann sagten die, das wissen wir. „Die ist notwendig, die müssen wir unbedingt machen“, ja, können wir auch nicht ändern. Und dann bin ich einfach sitzen geblieben. „Wir können es nicht ändern.“ Ich sag: „Hab ich verstanden. Sie können die Polizei rufen lassen. Fühlen Sie sich irgendwie besetzt, ich geh hier nicht weg“.
Das ist ein Zorn, der so hochgekommen ist. Aus dem Saulus ist ein Paulus geworden und bei mir ist es genau umgekehrt. Ich war ein netter, ruhiger Mensch und bin eine Schweinebacke geworden. Erst mal auch die einzige Möglichkeit, Erfolg zu haben, und für sich selber auch: dass man nicht alles schluckt und alles hinnimmt, sondern dass man auch kämpft. Das ist ganz wichtig, dass du kämpfst für das, was du liebst.
„Herr Spahn, wir müssen reden“
Ich hatte Herrn Spahn einen Brief geschrieben, weil ich verärgert war. Eigentlich hätte ich zu Frau Merkel gehen müssen, weil sie diejenige war, die ihn eingesetzt hat und damit die Pflege letztendlich verraten hat. Denn es war von vorneherein klar, dass Spahn aufgrund seiner Biografie nicht der richtige Mann ist, um ein Gesundheitsministerium zu führen. Von der Qualität her vielleicht ja, aber nicht von der Empathie. Da hatte ich einen Brief geschrieben und habe flapsig gesagt, Herr Spahn, ich komme mal auf einen Kaffee vorbei, wir müssen reden.
Es war gar nichts, niemand kam heraus, obwohl Ver.di vor der Tür noch eine Kundgebung gemacht hat, die hatten eine große Kaffeetafel aufgebaut.
Da war ein Stuhl frei, darauf stand „Jens Spahn Minister für alles Mögliche“, weil das so eine Zeit war, in der er sich in alles Mögliche eingemischt hat, Hartz IV und was weiß ich alles. Herr Spahn ist nicht gekommen, auch kein Vertreter vom Ministerium, nicht meinetwegen, das hätte ich auch nicht erwartet, aber nachdem Ver.di da groß aufgebaut hatte, Rundfunk war da, da hätte ein Statement gepasst.
Weil nichts kam und weil so viel Presseinteresse bestand an der ganzen Aktion, habe ich gedacht, dass kann man nicht einfach so versickern lassen. Dann habe ich die pflegenden Angehörigen angeschrieben, die ich so kannte, und die Foren, Facebook, Vereine und so weiter, und gesagt: Mensch Leute, schickt mir doch mal eure Lebens- und Leidenssituation. Ich geh’ noch mal zu Herrn Spahn, diesmal mit der Bahn, das geht schneller, und wenn er mich nicht empfängt, dann schütt’ ich ihm den Waschkorb voller Briefe eben vor die Tür.
Die Polizisten wussten, worum es geht
Es ist leider ein bisschen anders gelaufen, als ich mir das vorgestellt habe, ich hatte erwartet, mein Briefkasten läuft über, wenn der DHL-Wagen mit den vielen Briefen kommt. 20 Briefe hatte ich dann bekommen, das war natürlich ein bisschen mager und damit brauchte ich nicht zu Herrn Spahn zu gehen, da hätte er mich ausgelacht, da hätte er gesagt: Was, mehr ist das nicht, da kann das Problem ja nicht so schlimm sein.
Da habe ich gedacht, dann mache ich eine Lesung vor dem Ministerium und behaupte, ich habe Hunderttausend Briefe gekriegt und aus diesen Hunderttausend Briefen habe ich 20 rausgenommen. Herr Spahn kam raus, sah uns und machte einen großen Bogen auf die andere Straßenseite. Ich hatte die Aktion natürlich angemeldet und hatte zwei Polizisten als Bewacher, die waren aber beide total nett. Es waren beides Betroffene, der eine hatte einen dementen Vater, der andere hatte eine Ehefrau mit starken Depressionen, die wussten, worum es geht.
Sein Pressesprecher kam heraus und sagte, Herr Spahn könne auf solche Sachen überhaupt nicht reagieren, dann käme jede Woche jemand und würde mit ihm sprechen wollen. Dann kam der Schlüsselsatz: Und im Übrigen bekämen die pflegenden Angehörigen überhaupt keine weiteren Zuwendungen, jetzt wären die Pflegekräfte in den Altenheimen und Krankenhäusern dran, die pflegenden Angehörigen hätten in der letzten Legislaturperiode durch das Pflegestärkungsgesetz genügend Zuwendung erhalten, mehr gibt es nicht, Punkt. Das ist natürlich eine Aussage, das kann man so nicht hinnehmen, da muss man gegen angehen.
Pflegende Eltern sind kaum sichtbar. Wenn es um pflegende Angehörige geht, ist es meist die Tochter, die die Mutter pflegt, oder die Schwiegertochter, ältere Menschen werden gepflegt. In all den Vereinen, wo ich tätig bin, habe ich gesagt: Mensch, es gibt auch Eltern, die pflegen. Das liegt auch an den Eltern selbst, das ist nicht als Vorwurf gemeint, sondern sie sind oftmals an ihrem Limit und haben gar keine Kraft mehr zu kämpfen oder sich sichtbar zu machen.
Was würde die Volkswirtschaft zusammenbrechen, wenn wirklich jeder seinen zu Pflegenden vor die Tür stellt und sagt: Hier du Staat, mach du mal, Pflegeheim. Dann ist aus mit „Gorch Fock“ und Flugzeugträgern.
„Das kann ich meinen Mietern nicht zumuten“
Wir wohnen hier im vierten Stock; es ist nicht so einfach, eine barrierefreie Wohnung zu finden. Ich hatte vor einiger Zeit mal ein Angebot, da dachte ich, Mensch, gar nicht schlecht, im Erdgeschoss mit kleinem Garten hinten, aber der Vermieter hat mich drei Tage nach unserem Gespräch angerufen: Nee, ich vermiete Ihnen die Wohnung doch nicht, das kann ich meinen Mietern nicht zumuten mit einem behinderten Kind.
Es gibt so viele Sachen, ich könnte mich den ganzen Tag aufregen, aber ich versuche, das alles mit Humor zu nehmen. Nach der OP, da nimmt man es nicht mehr mit Humor, wenn das Kind schreit, aber ansonsten versuche ich es.
Bis auf die erbärmlichen Behördenwillkürmaßnahmen reagiert die Außenwelt nur positiv auf Nico. Er hat vier Delfintherapien gemacht, weil wir ganz liebe Menschen gefunden haben, die gesammelt haben. Nico ist, auch durch seine Fröhlichkeit, ein richtiger Türöffner. Allerdings lässt das jetzt auch langsam nach, weil er erwachsen wird, obwohl er das für mich immer noch ist. Er hat keinen Vollbart, aber es ist ein Unterschied, ob ein dreijähriges Kind sabbert, da sagt man, oh wie niedlich, oder ein 25-Jähriger.
Ich finde es schade, dass ich mit ihm nicht über Gott und die Welt diskutieren kann, er erzählt mir nicht die Träume, die er nachts hat. Wir machen viel mit Körpersprache, wenn wir so durch die Straßen gehen und er sieht von weitem ein McDonald’s-Schild, dann klatscht er, dann weiß ich, Junior-Tüte. Nico ist ein total interessierter Mensch und der kann die berühmte Blume am Wegesrand, die uns manchmal verborgen bleibt, entdecken.
„Ich trag' dich bis ans Ende der Welt“
Als er Kind war, habe ich gesagt: Alter, halt durch, ich trag’ dich bis ans Ende der Welt. Vor drei Jahren habe ich mein Versprechen dann endlich eingehalten, ich hab ihn zwar nicht mehr getragen, sondern geschoben, aber das hat er durchgehen lassen und wir sind den Jakobsweg gegangen, von dem die alten Kelten dachten, das sei das Ende der Welt. Dann habe ich ihn allerdings wirklich getragen, die Felsen herunter.
Einmal hatten wir uns in einem Flussbett festgefahren und sofort kamen welche angerannt, und halfen uns da raus. In Deutschland geht das nicht. Wenn ich da mit ihm die Stufen des Bahnsteigs heruntergehe, gehen Hunderte von Leuten an mir vorbei. Ab und zu fragt mal einer: Meist ist es ein Ausländer oder ein Älterer.
Wir haben jetzt ein Doppeltandem, wo man nebeneinander sitzt und da heizen wir durch den Park. Nico ist voller Energie, das ist für mich auch anstrengend, deswegen muss ich ihm ständig irgendwelche Angebote machen.
Er versteht die Dinge im Rahmen seiner Möglichkeiten. Zum Beispiel kennt er die Sterne, wenn ich sage, wo sind denn die Sterne, dann zeigt er nach oben. Oder wenn ich mit seiner Mutter darüber spreche, was er wieder ausgefressen hat, fängt er plötzlich an, schelmisch zu lachen, und dann weiß ich, er hat das Gespräch verstanden.
Es hinnehmen, wie es ist
Und manchmal, wenn ich ihn etwas frage, kommt gar nichts, wie bei einem Autisten, er guckt durch mich durch. Ich weiß nicht, woran das liegt. Aber ich habe gelernt, es hinzunehmen, wie es ist. Mich zu freuen, wenn irgendetwas kommt.
Es gab auch Momente, da dachte man, das ist jetzt ein Durchbruch, zum Beispiel, als er das erste Mal stand, da war er vier Jahre alt. Da dachte ich: Jetzt rennt er los. Aber dann hat es drei oder vier Jahre gedauert, bis er den ersten Schritt gemacht hat.
Wir haben wegen seiner Gehbehinderung einen Parkausweis, den wollte man uns dann wegnehmen, weil in einem Arztbericht stand, dass Nico Freude am Laufen hat. Und wer Freude am Laufen hat, braucht keinen Parkausweis mehr. Da habe ich auch wieder Widerspruch eingelegt, ich werde da sehr pampig: Haben Sie schon mal ein behindertes Kind gesehen, ich habe zufällig eins, ich komm gern mal vorbei und zeig Ihnen das. Und dann hätte ich Nico auf allen Vieren ins Büro schleichen lassen. Wir haben ihn dann gekriegt.
Das sind Sachen, die ich nicht verstehe: Das sind Menschen, die haben doch auch Familie, die müssen sich doch in so etwas hineinversetzen können. Nicht im Detail, die müssen nicht wissen, wie eine Windel gewechselt wird, aber die müssen sich doch in etwa vorstellen, dass es schwierig ist.
Wenn wir an der Treppe stehen, laufen die meisten an uns vorbei, aber im Einzelgespräch stoßen wir auf Verständnis, einige sagen: Wie schaffst du das? Deswegen mache ich diese Wanderaktionen, das ist der Moment, wo man sich austauscht, und gegenseitiges Verständnis aufbaut. Gerade mit Behördenmitarbeitern, damit der mir auch seine Sorgen erzählt.
Der Elbfenchel ist schicker
Ich habe die erste Wanderung 2008 mit Nico nach Krefeld gemacht. Ich dachte, bei jeder Etappe haben wir 100 Mitwanderer. Das klappte natürlich nicht. Manchmal sind wir alleine gelaufen, mal zehn, mal fünf, da kommen welche aus der Diakonie oder der Bürgermeister mit Pressetross, besonders zu Zeiten, wo gewählt wurde. Aber es gab auch viele tolle Gespräche. Die Bereitschaft der Leute, etwas zu tun, war enorm, zumindest bei den Mitwanderern. Aber die große Masse, das habe ich mir mal so gewünscht oder vorgenommen, die große Masse zu erreichen, das klappt irgendwie nicht.
Es gab gerade im Fernsehen einen Beitrag über den Elbfenchel. Der wird jetzt neu gepflanzt. Und die Elbvertiefung wurde zurückgestellt, weil diese Pflanze vom Aussterben bedroht ist. Es ist ja auch toll, wenn man sich dafür einsetzt, ich will das nicht kritisieren, ganz im Gegenteil, aber da stimmen manchmal die Proportionen nicht.
Da liest man, dass eine alte Dame im Altenheim wegen fehlender Pflege an ihrem Dekubitus leidet oder stundenlang in ihren Exkrementen liegt. Da wünsche ich mir eine Demonstration vor dem Altenheim, nicht nur für den Elbfenchel. Für den auch, ganz klar. Aber es ist irgendwie schicker, für solche Sachen auf die Straße zu gehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei