Offener Brief von Giftgas-Überlebenden: „So aktuell wie damals“
Im April 1915 setzten die Deutschen erstmals Giftgas ein. 100 Jahre später ist der Kampfstoff noch nicht gebannt – Stimmen aus Syrien, Iran, Irak und Kurdistan.
Die Welt gedenkt heute der Opfer des ersten Einsatzes chemischer Kampfstoffe gegen Menschen in Ypern am 22. April 1915. Ein Jahrhundert später ist der Terror chemischer Kampfstoffe noch nicht gebannt. Während wir uns an die Opfer des C-Waffeneinsatzes deutscher Truppen in Ypern vor einem Jahrhundert erinnern, wird derselbe Kampfstoff in Syrien von Regierungstruppen gegen Zivilisten eingesetzt. Das Leid und der ganz besondere Terror chemischer Kampfstoffe sind heute so aktuell wie damals.
Wir, die Überlebenden chemischer Angriffe aus unterschiedlichen Ländern, Menschen unterschiedlicher Abstammung und Glaubens, wissen, wer für den chemischen Angriff auf unser Leben verantwortlich ist: dieselben gewissenlosen Regierungen, die uns seit Jahrzehnten weismachen wollen, dass wir Feinde sind. Wir – Araber und Kurden, Bürger des Iran, Syriens, des Irak und der kurdischen Autonomieregion – sprechen heute gemeinsam, wissend, dass unsere einzigen Feinde diejenigen sind, die nicht zögern, Giftgas gegen uns einzusetzen.
Wir alle haben dasselbe Leid, dieselben Verluste erlitten – und wir leiden weiter daran, jeden Tag, bis heute. Drei Jahrzehnte sind vergangen, seit die irakische Armee iranische Soldaten und Zivilisten mit Kampfgas beschoss, 28 Jahre, seit Dörfer und Städte des kurdischen Nordirak mit chemischen Kampfstoffen angegriffen wurden – und noch immer sind die Folgen sichtbar. Wir, unsere Kinder und Enkel tragen diese Folgen wortwörtlich in uns; sie werden sichtbar bei Fehlgeburten, Missbildungen, Krebs und anderen Folgeerkrankungen. Unsere Geschichte hörte auf an dem Tag, als die Bombe fiel.
Halabja wird nie wieder jene Stadt der Kultur und Musik sein, als die sie früher galt, sondern wird für immer der Ort bleiben, an dem Saddam Hussein die Kurden vergaste. Es dauert nur eine Sekunde, die Bombe zu werfen, aber es braucht Generationen, um über ihre Folgen hinwegzukommen.
Wir sind Überlebende, aber bitte nennt uns nicht „Opfer“. Das würde nur verschleiern, was wir wirklich sind: Zeugen. Wir sind die lebenden Zeugen der albtraumhaften Brutalität chemischer Kampfstoffe. Und als Zeugen werden wir euch immer und immer wieder an das erinnern, was im Iran und im Irak geschah und was heute erneut in Syrien geschieht. Wir wissen, dass es nicht europäische Regierungen waren, die uns mit Gas angriffen. Aber wir sind uns der Tatsache bewusst, dass ohne die umfangreiche Hilfe europäischer Unternehmen weder das irakische noch das syrische Regime in der Lage gewesen wären, chemische Kampfstoffe herzustellen.
Deutsche Unternehmen waren am Aufbau des sogenannten State Enterprise for Pesticide Production im Irak beteiligt, lieferten Material, Rohstoffe, technische Infrastruktur und Wissen; französische und österreichische Unternehmen waren in kleinerem Umfang ebenfalls an dem Geschäft beteiligt, während italienische und spanische Firmen die Gefechtsköpfe und Granathülsen lieferten, die für C-Waffen erforderlich sind. Erst unlängst wurde bekannt, dass Unternehmen aus Großbritannien und – erneut – Deutschland Material und Grundstoffe zur C-Waffenproduktion an Syrien geliefert haben. Europa hat Beihilfe geleistet zu den Verbrechen, die an uns begangen wurden.
Bitte versteht uns nicht falsch: Wir möchten keine Entschuldigung. Wir sind der Kranzniederlegungen und anteilnehmenden Bekundungen müde. Wir brauchen kein Mitleid. Was wir brauchen, ist Handeln:
Handeln, um den weiteren Einsatz chemischer Kampfstoffe in Syrien und anderswo wirkungsvoll zu verhindern.
Handeln, um den Menschen in Ghuta und anderen von C-Waffenangriffen betroffenen Orten in Syrien endlich die benötigte Hilfe zu bieten. Die Region Ghuta, in der im August 2013 nachweislich das Nervengift Sarin eingesetzt wurde, ist weiterhin von Regierungstruppen umstellt. Bis heute sind die Überlebenden nicht fachgerecht ärztlich versorgt worden.
Handeln, um die Langzeitfolgen des Chemiewaffeneinsatzes besser zu erforschen und den Überlebenden in Irakisch-Kurdistan und im Iran zu helfen.
Handeln, um dem Geschäft mit dem chemischen Tod endlich einen Riegel vorzuschieben und europäische Unternehmen daran zu hindern, mit Material, Rohstoffen, Technologie und Wissen zum Bau chemischer Waffen zu handeln. Das Geschäft mit dem chemischen Tod ist mehr als ein Bruch von Außenhandelsgesetzen – es ist Beihilfe zum Massenmord.
Am Mittwoch werden Menschen aus Syrien, dem Irak und dem Iran an mehreren europäischen Botschaften einen Protestbrief zur Mithilfe europäischer Staaten an der Produktion von Giftgas in ihren Ländern übergeben. Gleichzeitig wird es Kundgebungen in Ghuta bei Damaskus, in Halabja im irakischen Kurdistan und in Ypern geben. Zum ersten Mal wird eine solche Botschaft, koordiniert von AktivistInnen aus diesen drei Ländern, überbracht. Eine Initiative der Gruppe „Breathless“.
Die UnterzeichnerInnen:
Ameenah Sawwan (aus Moadamiyeh/Syrien) ist 24. Ihre Familie wurde von chemischen Kampfstoffen verletzt, als die syrische Armee die Region Ghouta am 21. August 2013 mit Sarin angriff. Ihre Nachbarn nstarben an diesem Tag.
Arras Abed Akram (aus Halabja, Kurdistan/Irak) ist 42. Als die irakische Armee Halabja im März 1988 mit chemischen Kampfstoffen bombardierte, starb seine gesamte Familie und vieler seiner Freunde. 5.000 Zivilisten wurden an diesem Tag mit C-Waffen getötet.
Bakhtyar Latef Abdulqader (aus Göptepe, Kurdistan/Irak) ist 43. Am 5. Mai 1988 warfen MIG-Jäger der irakischen Armee Bomben mit chemischen Kampfstoffen über seinem Dorf ab. Seine Eltern, sein Bruder und seine Schwester starben im Gas. Bakhtyar verlor an diesem Tag insgesamt 21 Verwandte.
Handren Mahad Balesani (aus Balezan, Kurdistan/Irak) ist 33. Am 16. April 1987 wurde seine gesamte Familie durch chemische Kampfstoffe getötet, die auf sein Dorf abgefeuert wurden.
Hekmat Faeq Aref (aus Halabja, Kurdistan/Irak) ist 42. Er verlor 10 Familienmitglieder während des C-Waffenangriffs auf Halabja. Er selbst wurde schwer verletzt.
Jalal Husain Wahidi (aus Sardasht, Iran) wurde schwer verwundet als irakische Kampfbomber am 28. Juni 1987 Sardasht angriffen und in zwei Angriffswellen Bomben mit chemischen Kampfstoffen über Wohngebieten abwarfen. Etwa 130 Zivilisten wurden dabei getötet, ungefähr 8.000 verletzt.
Kamel Abdulqader Ways (aus Halabja, Kurdistan/Irak) verlor den größten Teil seiner Familie während des Chemiewaffenangriffs auf Halabja im März 1988. Er selbst wurde verwundet.
Lukman Abdulqader (aus Halabja, Kurdistan/Irak) ist 43. Er verlor 5 nahe Verwandte, seine Nachbarn und viele reunde beim C-Waffenangriff am 16. März 1988. Er selbst wurde schwer verwundet.
Mohammad Doumani (aus Douma/Syrien) ist 25. Er wurde dem Kampfstoff Sarin ausgesetzt als er Opfern der Giftgasangriffe auf die Vororte der Ghouta im August 2013 half.
Mohamad Katoub (aus Douma/Syrien) ist 40. Während der C-Waffenangriffe im August 2013 leitete er die ärztliche Notversorgung in Douma/West-Ghouta.
Mostafa Qader Esmaeel (aus Göptepe, Kurdistan/Irak) ist 46. Er verlor 9 nahe Verwandte als sein Dorf im Mai 1988 mit C-Waffen angegriffen wurde, darunter seine Mutter und seine gesamten Geschwister.
Osman Mohamad Abdullah (aus Halabja, Kurdistan/Irak) ist 35. Er war 8 Jahre alt, als chemische Kampfstoffe auf seine Heimatstadt geworfen wurden. An diesem Tag erlebte er, wie seine Mutter starb und ein großer Teil seiner Familie. Er selbst wurde schwer verletzt.
Qusai Zakarya (aus Moadamiyeh/Syrien) ist 28. Nach dem C-Waffenangriff der syrischen Armee am 21. August 2013 wurde er leblos aufgefunden. Helfer wollten ihn bereits aufgegeben, als Qusai doch noch wiederbelebt werden konnte.
Samira Youmn (aus Zamalkah/Syrien) ist 27. Sie verlor ihre Eltern, ihre Schwester und ihren Bruder, als ihr Zuhause von syrischen Truppen mit Kampfgas angegriffen wurde.
Yazan Khalil (aus Moadamiyeh/Syrien) ist 38. Als Arzt half und versorgte er Opfer der Giftgasangriffe auf die Vororte der Ghouta im August 2013 und wurde dabei selbst dem Kampfstoff Sarin ausgesetzt.
Zmnako Ali Halabjae (aus Halabja, Kurdistan/Irak) ist 27. Als Halabja angegriffen wurde, war er 3 Monate alt. Nachbarn retteten das Kleinkind und brachten ihn über die iranische Grenze, wo er bei einer iranischen Pflegefamilie aufwuchs, aber staatenlos blieb. Erst 2009 wurden per DNA-Vergleich lebende Verwandte in Halabja gefunden. Mit 22 Jahren traf Zmnako erstmals seine Mutter. Ein großer Teil der übrigen Familie war im Giftgasangriff umgekommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“