Offener Brief nach Unfallflucht: „So geht man nicht mit Menschen um“
Der vierjährige Kalle wurde von einem Radfahrer umgefahren, der Unfallflucht beging. Nun schreibt Kalle einen offenen Brief.
Der Blick von außen ist in der Theorie ein großes Ding, in der Praxis unpopulär. Geeignet für Ansprachen wie die des Verfassungsgerichtspräsidenten zum Tag der Deutschen Einheit, in der er anmerkte, dass es erhellend sein könne, mit Menschen zu sprechen, die politisch anderer Meinung sind als man selbst. Das gilt für Privatleute, Zeitungen, huhu taz!, Institutionen, es ist gewissermaßen eine gezielte Verunsicherung: Siehe da, man kann die Dinge auch anders sehen und vielleicht gibt es sogar gute Argumente dafür.
Eine Spielart dieses Blickes von außen ist der von Kindern, und das mag neben ihrer gelegentlichen Nöligkeit und Lautstärke einer der Gründe sein, weshalb auch sie in der Theorie oft populärer sind als in der Praxis.
Es gibt ein uraltes Märchen, in dem ein Ehepaar den alten Großvater nur noch abseits vom Tisch und von irdenem Geschirr essen lässt, weil seine Hände angefangen haben zu zittern. Kurz danach sehen die Eltern, wie ihr kleiner Sohn eine Schale aus Holz schnitzt. „Wofür ist das?“, fragen sie. „Daraus könnt ihr essen, wenn ihr alt seid“, antwortet der Sohn. Daraufhin holen sie bestürzt den Großvater wieder an den Tisch.
Das Märchen ist aus den verschiedensten Gründen gruselig – unter anderem, weil der Sinneswandel der Eltern mäßig überzeugend wirkt, aber auch, weil das Märchen hässlich aktuell ist. In jedem Fall ist der Blick dieses Kindes ein Korrektiv, weil er die Verbindung zieht, die die Eltern nicht sehen.
Niemand schreit Halleluja
Es ist eine unbiegsame Logik darin, ein Wennihrdiessagtmussjenesgelten, die sich im Erwachsenenalter nur noch eine Minderheit störrischer Idealist:innen leistet. Niemand schreit Halleluja, wenn er ihr begegnet. Es liegt eine klare Strenge darin, die nichts von der gängigen Kinderaugensehendichan-Rührseligkeit hat.
Oft ist es nicht einmal eine Meinung, sondern eine Frage, ein „Wie kann es sein, dass…?“. Es sind echte Fragen, keine rhetorischen und das macht es so schwierig, ihnen auszuweichen. Kürzlich fand sich solch eine Frage im Postfach der taz-nord-Redaktion, deswegen drucken wir sie hier ab.
Es ist der offene Brief des vierjährigen Kalle, der in Bremen von einem Radfahrer umgefahren wurde, der danach schlicht weiterfuhr. Kalle hat im Anschluss mit seiner Mutter den Brief verfasst. Er ist erhellend in Sachen Verkehrsgebaren, vor allem aber im Staunen darüber, dass Leute sich der Verantwortung entziehen, obwohl doch alle sagen, dass man das nicht tut.
Hallo Fahrradfahrer,
du hast mich heute morgen am 30.September um 10 Uhr angefahren. Du bist viel zu schnell durch den Friedenstunnel mit dem Fahrrad gedüst. Ich war mit meinem Papa und meinen zwei Geschwistern Brötchen holen und bin über die grüne Ampel mit meinem Fahrrad gefahren.
Weil du so schnell warst, konntest du nicht mehr bremsen und hast versucht auszuweichen. Dabei hast du meinen Vorderreifen mit deinem Reifen getroffen und verdreht. Mit deinem Lenker hast du meinen Helm, meine Stirn und meine Nase getroffen. Daraufhin bin ich umgefallen. Du bist einfach weiter gefahren und hast nicht zurück geguckt, wie es mir geht.
So geht man nicht mit Menschen um. Nicht nur, dass du die Verkehrsregeln gebrochen hast, indem du zu schnell und über Rot gefahren bist. Das Schlimmste ist, dass du Fahrerflucht begangen hast.
In der Kita lernen wir, dass wir aufeinander achten. Wenn wir jemandem wehtun, dann ist das Wichtigste zu fragen, wie es dem Menschen geht. Ich finde, du solltest kein Fahrrad und kein Auto mehr fahren, wenn du noch nicht gelernt hast, wie man sich benimmt.
Ich warte auf eine Entschuldigung und, dass du mein Fahrrad reparierst.
Kalle, 4 Jahre
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