Ökonom über Wirtschaftszyklen: „Wir leihen uns das Wachstum“
Der Brexit und Trumps Handelskonflikt beeinflussen die Wirtschaft deutlich weniger als gemeinhin angenommen. Das sagt der US-Ökonom Lakshman Achuthan.
taz: Herr Achuthan, Sie untersuchen langfristige Wirtschaftszyklen. Donald Trump droht in alle Richtungen mit Zöllen, und trotzdem scheint die Weltwirtschaft relativ stabil. Ist das wegen oder trotz Trump?
Lakshman Achuthan: Wirtschaftszyklen sind in marktorientierten Ökonomien – und das ist fast die ganze Welt – viel größer und stärker als irgendwelche Politiker. Wir hatten einen globalen Aufschwung, der rein zufällig um die US-Präsidentschaftswahl 2016 losging, 2017 anhielt und sich 2018 langsam wieder abschwächte.
Trotzdem hatten die USA 2018 mit 2,9 Prozent ein höheres Wachstum als etwa Europa.
Hier hat sich die Erzählung durchgesetzt, die USA hätten sich vom Rest der Welt ökonomisch abgekoppelt. Ich sehe das anders. Die ökonomische Abkühlung hat sich wegen zwei großer Einmaleffekte nur verzögert – was sich nicht wiederholen lässt. Das eine war die Steuersenkung; außerdem hatten wir einen Boom bei der Öl- und Gasförderung in den mittleren US-Bundesstaaten, verbunden mit einem hohen Ölpreis.
Wird der Einfluss des Zollstreits auf die Weltwirtschaft also überschätzt?
Wir haben es fast schon mit einer falschen Geschichte zu tun. Der Wendepunkt im aktuellen Wachstumszyklus lag vor dem Beginn des Handelskrieges. Erst nachdem sich der Aufschwung abschwächte, kam der Handelskrieg dazu. Die Regierung in Washington behauptet jetzt, ihre Handelsrhetorik gegenüber China habe dort die Wirtschaft gedämpft. Das stimmt schlicht nicht: China stand ohnehin vor einer Abkühlung der Wirtschaft, weil das Land – wie alle, auch Deutschland – am globalen Wachstum der Industrieproduktion hängt. Dazu kommt diese Handelsrhetorik, die sich theoretisch ebenfalls negativ auswirken müsste. Aber auch da gibt es seltsame Effekte: Wenn Sie Zölle für den nächsten Monat ankündigen, dann kaufen erst mal alle in diesem Monat ein.
Wie entstehen solche Wirtschaftszyklen?
ist Mitbegründer des Economic Cycle Research Institute in New York und analysiert für US-Medien wie Bloomberg, Reuters oder CNBC die wirtschaftliche Lage.
Sein Institut geht zurück auf Ideen des Ökonomen Wesley C. Mitchell, der während der Großen Depression in den 1930er Jahren im Auftrag des US-Finanzministeriums Methoden entwickelte, mit denen sich Konjunkturzyklen erklären lassen.
Eine Rezession ist per Definition, wenn in zwei Quartalen hintereinander das Bruttoinlandsprodukt (BIP) schrumpft. Dieses Risiko besteht in Deutschland. Aber momentan gibt es noch Beschäftigungszuwachs; das spricht dagegen. Wir nennen diese Situation dann ein „Fenster der Verletzlichkeit“. Öffnen sich dieses Fenster, kann es einen Teufelskreis geben: Fällt die Produktion, gibt es weniger Beschäftigung, dadurch sinken Einkommen, dadurch sinken die Verkäufe, dadurch sinkt die Produktion. Ein Zollstreit oder der Brexit sind nur dann ernsthaft gefährlich, wenn sich die Wirtschaft gerade zyklisch in einer verletzlichen Phase befindet.
Der US-Ökonom Hyman P. Minsky meinte: Wenn die Wirtschaft wächst, vergessen die Leute die Risiken, gehen immer höhere ein, bis sie sich völlig überschätzen. Dann platzt die Blase. Ist es so simpel?
Ja, genau so ist es. Wenn sich diese Situation mit einer Rezession kombiniert, dann gibt es einen tiefen Abschwung. Die USA hatten seit 1790 insgesamt 47 Rezessionen – und wir haben sie alle überlebt. Die nächste wird kommen; wir werden sie überleben. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind Zyklen zunächst softer geworden. Dafür gibt es einen Haufen Gründe: mehr Dienstleistungen, eine relativ dazu kleinere industrielle Produktion. Mit extrem niedrigen Zinsen haben wir dann in den Nullerjahren die Häuserblase aufgepumpt. Wenn die Politik so etwas befördert, dann kommt es zu einem größeren Knall.
Könnte es wieder zu einem solchen Knall kommen?
Sicherlich. Wir haben heute nur andere Extreme. Das könnte der Aktienmarkt sein, die Preise sind relativ hoch. Und die Schulden sind enorm, das könnte sich bei einem Abschwung rächen.
Seit den 1970ern lässt sich beobachten, dass nach jedem Aufschwung das Wachstum im Schnitt abnimmt. Setzt sich der Trend fort, müsste es bald ein Ende des Wachstums geben.
Stimmt. Ich bin aber nicht komplett deprimiert. Vielleicht habe ich etwas übersehen, und irgendeine Entwicklung führt zu einem enormen Zuwachs der Produktivität. Derzeit aber haben wir, was langfristige Trends angeht, eine einfache Mathematik: In allen entwickelten Wirtschaften, sogar auf den aufstrebenden Märkten, gibt es kaum neue Arbeitskräfte, teilweise nimmt ihre Zahl sogar ab. Das ist die Hälfte des Potenzials einer Wirtschaft. Die andere ist Produktivität: Da ist die Entwicklung schwer vorherzusagen.
Aber die Produktivität nimmt kaum noch zu …
… und das ist überall so. In der USA nahm sie vor der Finanzkrise im Schnitt noch jährlich um 2,25 Prozent zu. Seitdem liegt der Wert unter einem Prozent. Nehmen Sie das und addieren im besten Fall ein halbes Prozent an Zuwachs bei den Arbeitskräften – das ist das Maximum, was wir mit legaler Immigration und bei niedriger Geburtenrate hinbekommen –, dann haben sie langfristig ein maximales Wachstumspotenzial von einem Prozent. Aber das US-Budget basiert auf einem langfristigen Wachstum von drei Prozent. Die meisten staatlichen Institutionen, die großen Firmen und Pensionskassen hängen von höheren Wachstumsraten ab. Nur wenn Sie durch monetäre Stimulation das Wachstum ankurbeln, steigt die Nachfrage zusätzlich.
Die Lage der Märkte
Laut dem am Dienstag erschienenen Quartalsbericht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) hat vor allem die Politik der Zentralbanken in den letzten Monaten die Märkte beeinflusst, weniger Trumps Handelskonflikt: „Da sich Zentralbanken und Finanzmärkte synchron wie ein Paar auf der Tanzfläche bewegen, ist es zuweilen schwierig, ihre Schritte auseinanderzuhalten.“ Die BIZ ist eine Organisation der Zentralbanken.
Was China treibt
Die BIZ hält die mit dem Handelskonflikt mit den USA verbundenen Folgen und Unsicherheiten in China für einen geringeren Störfaktor für die Wirtschaftstätigkeit des Landes als dessen Schuldenproblematik. Der Schuldenberg, getrieben durch die Staatsunternehmen, liegt bei über 250 Prozent der Wirtschaftsleistung.
Und Deutschland?
Offiziell schrammte das Land an einer Rezession vorbei: Im dritten Quartal 2018 schrumpfte die Wirtschaftsleistung, im vierten stagnierte sie. Die Ökonomen Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker sehen Deutschland bereits in einer Rezession. Sie sprechen von einer „höchst fragwürdigen Interpretation“ der Zahlen. (ia)
Das ist das, was die Zentralbanken seit der Wirtschaftskrise gemacht haben?
Genau. Das Wachstum von Schulden in den USA, Japan oder Europa ist seit der letzten Wirtschaftskrise zehnmal so hoch wie das Wirtschaftswachstum.
Wir wachsen also auf Pump?
Und das ist nicht nachhaltig. Das funktioniert einfach nicht. Wir leihen uns das Wachstum aus der Zukunft. Wenn Sie das machen und sich dann hinstellen und sagen: „Oh, toll, wir haben ein lange Wachstumsphase!“, dann wird das irgendwann kosten. Es wird sehr schwer werden, den nächsten Abschwung zu bekämpfen.
Sie haben gezeigt, dass seit 2011 der Welthandel langsamer wächst als die Weltwirtschaft. Es gibt also weniger Globalisierung. Wie kann das sein?
Die Globalisierung hat ihren Zweck erfüllt. Zu Beginn des Jahrhunderts, als China der Welthandelsorganisation beitrat, gab es viele Möglichkeiten, in Übersee zu produzieren. Die Preise stimmten, auch wenn man alles um die halbe Welt schiffen musste. Heute sind die Preisvorteile nicht so klar. Hinzu kommt das relativ schwache Wachstum. Wenn die Antwort der Politik ist, Wachstum künstlich durch Schulden zu befeuern, dann zögern Konzerne, noch mehr Kapazitäten in Übersee aufzubauen.
Warum argumentieren dann so viele Menschen von rechts bis links gegen die Globalisierung?
Es braucht sehr lange, bis ankommt, dass die Welt sich bereits in eine andere Richtung entwickelt. Außerdem läuft es für viele Menschen ökonomisch eben nicht gut. Die hören dann überall, der Wirtschaft gehe es gut, und sie sagen: „Nicht für mich, da stimmt was nicht.“ Da spielt dann die Angst vor der Globalisierung eine Rolle.
Sie beraten Banken an der Wall Street. Haben die das Problem Klimawandel erkannt?
Viele sehen den langfristigen Trend, in saubere Energie zu investieren, als Chance. Die Wall Street hat einen einfachen Blick auf den Klimawandel: Wie können wir Geld damit verdienen? Ich urteile nicht, das ist eben so. Gleichzeitig handeln die auch mit fossilen Energieträgern und versuchen damit Geld zu machen. Nur ein paar Investmentfonds, die sich als nachhaltig identifizieren, heben sich ab.
Eine Minderheit?
Eine Minderheit, aber eine, die wächst. Ich sitze in den Meetings der richtig großen Wall-Street-Banken und habe bemerkt, dass sie alle angefangen haben, ESG-Fonds anzubieten. Wissen Sie, was damit gemeint ist?
Environment, social, governance, also ökologisch-soziale Investments plus gute Unternehmensführung.
Einige bieten jetzt Investments an, die nach diesen Kriterien bewertet werden – weil immer mehr Investoren dafür sensibel sind und danach fragen. Ich glaube, das ist eine Generationenfrage. Die Jüngeren übernehmen immer mehr die Kontrolle und fangen an zu fragen: Moment, warum investieren wir in diese Ölfirma? Ich mag das nicht.
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