Ökonom Paul Krugman in Europa: Missionar auf Reisen
Paul Krugman, Nobelpreisträger für Wirtschaft, besucht Europa. Er wundert sich über das „Paralleluniversum“ von Schäuble.
BRÜSSEL taz | Der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman kann polemisch sein, aber er bleibt immer freundlich. Auch diesmal lächelt er, als er die jüngsten Äußerungen von Finanzminister Schäuble kommentiert. „Sehr seltsam.“ Kleine Pause. „Schäuble lebt in einem Paralleluniversum.“
Es ist ein Schlagabtausch auf Distanz. Krugman kam an diesem Donnerstag nach Brüssel, während Schäuble umgekehrt auf dem Weg in die USA war, um an der IWF-Tagung in Washington teilzunehmen. In einem Meinungsbeitrag für die New York Times hatte Schäuble schon vorab mitgeteilt, was er auch beim internationalen Finanztreffen vortragen würde: Die Eurokrise sei vor allem „eine Vertrauenskrise“. Daher würden Konjunkturpakete „nichts bringen“.
Krugman lächelt, obwohl er an dieser Lernresistenz verzweifelt: „Genau das Gleiche hätte Schäuble schon vor fünf Jahren schreiben können.“ Krugman versteht nicht, warum Schäuble nicht versteht, wie isoliert er inzwischen ist. „Niemand glaubt diesen Unsinn in den internationalen Organisationen.“
Krugman muss es wissen, denn er kennt die Chefs dieser Institutionen allesamt persönlich. Der 62-Jährige hat mit ihnen am Massachusetts Institute of Technology (MIT) studiert, das lange Zeit die weltweit wohl wichtigste Kaderschmiede für Ökonomen war. Zu Krugmans Kommilitonen zählten unter anderen: Mario Draghi, heute EZB-Chef, Ben Bernanke, langjähriger Präsident der US-Notenbank (Fed), und Olivier Blanchard, jetzt IWF-Chefvolkswirt.
Erfolgreicher Blogger
Krugman selbst war, abgesehen von einem kurzen und obskuren Jahr in der Reagan-Verwaltung, nie in großen internationalen Organisationen oder in der Politik beschäftigt. Stattdessen lebt er seine Doppelbegabung aus: Er ist nicht nur ein bedeutender Ökonom, der jetzt in Princeton lehrt, sondern ein ebenso glänzender Journalist. Sein Blog bei der New York Times hat schon mehrfach Preise gewonnen und wird weltweit täglich von Millionen gelesen. Bei jedem Ranking landet Krugman auf einem der vordersten Plätze – ob es um die wichtigsten Denker, die einflussreichsten Ökonomen, die bedeutendsten Keynesianer oder die besten Journalisten geht.
lehrt an diversen Universitäten in aller Welt. Seine Großeltern wanderten 1922 in die USA ein, aus dem damals polnischen Brest. Den Nobelpreis erhielt er 2008 „für die Analysen der Handelsmuster und Räume wirtschaftlicher Aktivität“. Krugmans Modelle erklärten, wie und warum Handel zwischen Weltregionen läuft und wo sich Reichtum häuft.
Sein Blog „The Conscience of a Liberal“ (New York Times) lässt sich übersetzen mit „Gewissen eines Linken“, spielt aber damit, dass er gleichzeitig Wirtschaftsliberaler ist. Dort wird er nicht müde, den Neoliberalen ihr Versagen bei der Erklärung und Überwindung von Krisen vorzuwerfen. Er gilt als „meistgehasster“ und „meistbewunderter“ Kolumnist der USA.
Krugmans Leben ist ein beharrlicher Kampf gegen die gängigen Mythen des Neoliberalismus. Nach Brüssel war er gekommen, um an dem „europäischen Gespräch“ teilzunehmen, das die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung einmal im Jahr ausrichtet. Wieder eine Chance für Krugman, zu erklären, warum Staatsschulden kein Problem darstellen, Konjunkturpakete nötig sind, Vollbeschäftigung möglich wäre – und warum die EU-Kommission „nur gefährliche Ideen ausbrütet“.
Mit Genuss macht er sich über die „Strukturreformen“ lustig, dieses „gefährliche Wort“, an dem Schäuble und die Troika so hartnäckig festhalten. „Vor der Krise wurde Irland immer für seine Strukturreformen gelobt. Als dann die Eurokrise ausbrach, wurde Irland erneut erzählt, es brauche – Strukturreformen.“
Argumentative Schützenhilfe
In Europa wäre Krugman „ein Sozialdemokrat“, wie er den versammelten Gewerkschaftern gleich mehrfach versichert. Aber genau deswegen versteht er die europäischen Sozialdemokraten nicht. „Sie sind so erstaunlich unwillig, die Sparpolitik der Konservativen anzugreifen.“ Also übernimmt Krugman diesen Job. Sein Blog ist bei europäischen Lesern auch deshalb so beliebt, weil sie dort Argumente finden, die im heimischen Diskurs fast völlig fehlen.
Krugmans Blog ist eine kunstvolle Mischung aus wissenschaftlichen Analysen und allgemeinverständlichen Erklärungen, aus Ökonomie und Privatleben, aus Polemik und nüchterner Betrachtung. Auf den ersten Blick erstaunt, wie sehr Krugman Details aus seinem Privatleben offenbart. Die Leser wurden prompt informiert, als seine Hauskatze verstarb, und jetzt dürfen sie daran teilhaben, wie der Nobelpreisträger „gegen das Alter kämpft“.
Krugman nimmt seit zwei Jahren ab und diskutiert freimütig die diversen Diätpläne. Er selbst hat sich für die Methode entschieden, zwei Tage pro Woche zu fasten. Das Ergebnis kommentiert er gewohnt selbstironisch. „Falls Sie es wissen wollen: Es ist tatsächlich sehr unangenehm. Aber regelmäßiges Leiden scheint meiner Persönlichkeit zu entsprechen.“
Um seine Erfolge zu kontrollieren, hat er ein Fitbit-Gerät angeschafft, das die täglichen Schritte und den Kalorienverbrauch zählt. In Brüssel erzählt er begeistert, dass es übrigens „genau das gleiche“ Fitbit-Gerät sei, das auch US-Präsident Obama am Handgelenk trägt.
Bunte Tonne auf dem Rad
Inzwischen hat Krugman 20 Kilo abgenommen, und in seinem Blog erregt er sich regelmäßig darüber, dass Zeitungen alte Fotos drucken, die nicht sein neues schlankes Selbst zeigen. Man könnte diese Einträge für eitel halten. Aber eitel ist Krugman nicht. Ohne Hemmungen postet er Bilder von einer Radtour, auf denen er in seiner beuligen Regenkleidung wie eine bunte Tonne aussieht.
Es ist keine Marotte, sondern Methode, dass Krugman über seinen Alltag berichtet. Seine Leser sollen die Scheu vor der Ökonomie verlieren, denn er sieht seinen Blog und seine Vorträge als demokratisches Projekt: Jeder Bürger soll verstehen, wie die Wirtschaft funktioniert. Krugman will verhindern, dass sich die Eliten widerstandslos bereichern können.
Überhaupt die Eliten. In Brüssel unterbreitet er eine These, die er auch schon in seinem Blog ventiliert hat. Es sei „keine Verschwörungstheorie“, warnt er gleich, „vor zehn Jahren hätte ich es selbst nicht geglaubt“. Aber inzwischen ist Krugman überzeugt, dass die Politiker in den Krisenländern der Troika-Politik nur folgen, weil es ihnen selbst nützt. Sie werden mit gut bezahlten Posten in Europa versorgt „und dürfen Reden in Davos halten, wie wichtig es ist, harte Entscheidungen zu treffen“.
Abstecher nach Athen
Drei Stunden Schlaf, ein Tag in Brüssel, und dann geht es für Krugman weiter nach Athen, wo er Premier Alexis Tsipras trifft. Der Nobelpreisträger will seine Sympathie für ein weiteres Schäuble-Opfer bekunden. Denn erneut versteht Krugman nicht, was der deutsche Finanzminister bezweckt. „Die Griechen können ihre Kredite nicht zurückzahlen.“ Auch sei es völlig sinnlos, noch weitere „Strukturreformen“ bei den griechischen Löhnen zu fordern. „Die Gehälter im privaten Sektor sind schon um mehr als 20 Prozent gesunken.“
Krugman ist dagegen, dass Griechenland den Euro verlässt. „Das Chaos wäre enorm.“ Trotzdem hält er den „Grexit“ inzwischen für möglich, weil die Eurozone unter Schäubles Führung den Griechen nicht entgegenkommt.
Mehr Zeit hat Krugman nicht für die Probleme Europas. Er muss am Montag wieder in Princeton sein, um seine Studenten zu unterrichten.
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