Ökologe über Überschwemmungsgebiete: „Wir haben zu viele Auen verloren“
Seit Jahrzehnten heißt es bei Hochwasser-Katastrophen, Flüssen müsse mehr Raum gegeben werden. Der Auenökologe Mathias Scholz erklärt, warum das so ist.
taz: Herr Scholz, angesichts des Hochwassers heißt es oft, wir bräuchten mehr Flussauen. Können Sie bitte erklären, was das ist?
Mathias Scholz: Auen sind einen Fluss begleitende Landschaften, die bei hohen Abflüssen, die durch Starkregen oder Schneeschmelze entstehen können, überschwemmt werden.
Und im Naturzustand nicht eingedeicht und begradigt sind.
Genau. Diese Flächen fallen bei normalen Abflüssen oder bei Niedrigwasser wieder trocken. Bei Hochwasser werden in Auen viele Nährstoffe hineingeschwemmt, daher sind sie meistens extrem fruchtbar.
In Deutschland gibt es kaum noch natürliche Auen.
Wir haben mehr als 70 Prozent an Auen verloren, an den großen Flüssen sogar über 90 Prozent, also an Elbe, Donau oder Rhein. Und dort, wo es sie noch gibt, etwa an der Weser, werden sie zum Teil intensiv landwirtschaftlich genutzt oder wurden bebaut. Wenn diese Flächen wie jetzt so extrem überschwemmt werden, ist der Schaden entsprechend hoch. Nicht nur der finanzielle, die Menschen dort sind emotional schwer belastet.
Gibt es noch Auwälder?
Von den existierenden Auen sind nur noch zehn Prozent mit Wald bewachsen, davon ist aber nur ein Prozent funktionierender Auwald mit entsprechender Gehölzzusammensetzung. Die größten gibt es im Einzugsgebiet von Elbe, an der Weser und Aller. Aber auch davon sind nur Fragmente in der Landschaft erhalten.
Welchen Nutzen haben diese?
59, leitet seit 2006 die Arbeitsgruppe Auenökologie am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig. Diese untersucht unter anderem die Effekte von Fluss-Renaturierungen.
An den Oberläufen nahe der Quelle und den Mittelläufen halten sie sehr gut das Wasser zurück, wie Schwämme. Sie sind auch wichtig in Dürreperioden, weil sie Wasser über Wochen und Monate zurückgeben können. Zudem ist das Artenreichtum in Auen grundsätzlich sehr groß. An den Unterläufen sind die Wälder meist vor Hunderten, wenn nicht Tausenden von Jahren aus der Landschaft verschwunden, weil diese Flächen schon so lange landwirtschaftlich genutzt werden.
Es gibt die Sorge, dass die Hochwassergefahr steigt, wenn das Wasser stellenweise zurückgehalten wird, zum Beispiel durch Wälder. Können Sie das erklären?
Das wird immer mal wieder diskutiert, zum Beispiel an der unteren Mittelelbe. Wenn ein Wald eine dichte Wand wäre, würde das natürlich die Hochwassergefahr erhöhen. Allerdings ist so ein Auwald sehr lückig, da sind Flutrinnen und offene Bereiche drin, die nicht zuwalden, es gibt viele Wege für das Wasser. Entscheidend ist die Breite der Aue. Bei Hochwasser-Ereignissen wie dem aktuellen sieht man, dass sich das Wasser ausbreiten können muss, auch um den Druck von den Deichen zu nehmen. Dafür braucht es nicht versiegelte Retentionsflächen, damit das Wasser in der Landschaft länger verweilen kann.
Was passiert, wenn es das nicht kann?
Dann bekommen die Unterläufe so wie jetzt zu viel Wasser ab. Das Wasser fließt aufgrund der fehlenden bewaldeten Auen am Ober- und Mittellauf schneller ab, und am Unterlauf stapelt sich das Wasser in den vorhandenen Auen, in den alten Überschwemmungsgebieten. Hochwasser ist dort nichts Ungewöhnliches, dafür gibt es Deiche und andere technische Bauwerke. Aber es ist über Jahrzehnte nicht mehr in solchen Dimensionen passiert, da kommt das System an eine Belastungsgrenze. Ein Deich heißt nicht, dass ich hundertprozentig vor Hochwasser geschützt bin.
Sind die Deiche gar Teil des Problems und nicht der Lösung?
Nein, man kann nicht alle Deiche zurückverlegen, um den Flüssen mehr Raum zu geben. Dann würden wir die meisten Großstädte in Deutschland unter Wasser setzen, weil fast alle an großen Flüssen liegen und sich in Auen entwickelt haben, auch die Metropolen Köln, Frankfurt, München, Berlin. Hochwasserschutz ist eine Kulturleistung, um überhaupt in diesen Räumen siedeln zu können. Es geht ja nicht darum, wieder auf einen Urzustand zurückzukommen. Stattdessen müssen wir dort, wo es Potenziale gibt, Deiche zurückverlegen oder den Fluss wieder an die normalen Talränder mäandrieren lassen. Zum Teil sind solche Flussauen zehn oder 20 Kilometer breit.
Aber dort, wo Potenzial ist, haben Landwirt:innen ihre Flächen …
Genau.
Bis 2020 sollten zehn Prozent überflutbare Auen geschaffen werden.
Und nur ein bis zwei Prozent wurden in Deutschland umgesetzt. Die Planungsabläufe sind sehr lang, da muss man Zeiträume von zehn bis 15 Jahren kalkulieren.
Haben wir die Zeit noch?
In China würde das vielleicht in zwei Jahren durchgezogen, aber in einer Demokratie müssen alle Interessen berücksichtigt werden. Das dient auch einer nachhaltigen Lösung. Der Zustand, den wir jetzt haben, ist über Jahrhunderte entstanden, wir können nicht mal eben die Landschaft umbauen.
Was könnten Landwirte mit solchen Flächen überhaupt noch anfangen?
Neben Auwald kann Grünland Hochwasser sehr gut ertragen.
Aber ein Bauer stellt ja nicht freiwillig von Mais auf Rinder um.
Nein, das kostet jede Menge Geld und Überzeugungskraft. Wir wissen aus Befragungen, dass die Akzeptanz wächst, je weiter weg man von solchen Maßnahmen ist. Aber durch eine gute Öffentlichkeitsarbeit und Einbindung in Planungsprozesse kann man vermitteln, dass der Hochwasserschutz vor Ort verbessert wird. Vorausgesetzt, die Deiche werden gut unterhalten und es gibt Pumpwerke, um Wasser abzupumpen, wenn das in der Altaue nicht abfließt. Die Landwirte brauchen Angebote, entweder Flächentausch oder Transferleistungen bei anderer Nutzung.
Reden wir nicht seit 2002, seit dem Elbehochwasser, das Sachsen am stärksten getroffen hat, darüber, dass sich die Flüsse wieder ausbreiten können müssen?
Schon seit den 1980er-Jahren …
Das heißt, es liegt nicht nur an Planungsprozessen, dass wir so wenig intakte Auen haben?
Nein, es wurde auch viel versäumt, es wurde zu viel in Überschwemmungsgebieten gebaut, wir haben zu viele Fläche versiegelt. Zukünftig sollte ein Schwerpunkt darauf liegen, den Hochwasserschutz im Kontext des Landschaftswasserhaushaltes neu zu überdenken. Die Begradigung und Kanalisierung von Flüssen und Bächen, der Verlust von mehr zwei Dritteln unserer ursprünglichen Flussauen und Überflutungsflächen sowie die Trockenlegung von Feldern und Mooren durch Drainagen führen dazu, dass Niederschläge schnell durch unsere Gewässer abfließen. Um nicht nur Hochwasser effektiver zu bekämpfen, sondern auch besser auf Perioden von Wassermangel vorbereitet zu sein, müssen wir Wasser länger in der Landschaft halten.
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