Occupy von New York bis Berlin: Solidarität oder Suppe
Zwischen "Occupy Wall Street" und "Occupy Berlin" liegen Welten, hat Tashy Endres, deutsche Aktivistin aus New York, festgestellt.
Mitte September ist die Berlinerin Tashy Endres in New York City. Eigentlich will sie nur ein paar Tage bleiben. Doch zur selben Zeit besetzen nur zwei Blöcke entfernt von ihr ein paar Demonstranten den Zuccotti Park in Lower Manhattan. Endres entscheidet sich zu bleiben und schließt sich den Aktivisten von Occupy Wall Street an. Statt ein paar Tage bleibt sie drei Monate in New York - und wird Teil der Bewegung. Zum Jahresanfang kommt sie kurz nach Berlin zurück, Endres will sich ein Bild von der deutschen Occupy-Bewegung machen. Sie verabredet sich mit Daniel und Zuna, zwei Aktivisten von Occupy Berlin.
Tashy will sich das Berliner Occupy-Camp ansehen, aber da fängt das Problem schon an. In Lower Manhattan folgte sie den Trommeln und den Klängen der "Mic Check"-Rufe. In Berlin kann Tashy das Camp nicht finden - obwohl sie hier lange gelebt hat. Zweimal ruft sie Daniel, ihren Kontakt im Camp, auf dem Handy an, um sich navigieren zu lassen. Der ehemalige Bundespressestrand liegt irgendwo zwischen Reichstag und Hauptbahnhof, hier trifft man niemanden, den man fragen könnte. Nach einer halben Stunde hat es Tashy geschafft.
taz: Tashy, Sie sind seit drei Monaten Teil von Occupy Wall Street und haben zwei Monate im Zuccotti Park gelebt. Was ist Ihr erster Eindruck hier?
Occupy ruft am Sonntag zu einem bundesweiten Aktionstag auf: "Global Change - eine mögliche Welt ist anders".
In Berlin trifft sich die Bewegung um 13 Uhr am Alexanderplatz (Neptunbrunnen). Ab 14 Uhr soll eine Demonstration erst zum Brandenburger Tor, dann weiter zum Gelände des am Montag geräumten Occupy-Camps am Kapelleufer ziehen. Dort soll ein Abschlusskonzert stattfinden.
Parallel sollen Protestaktionen in 33 weiteren Städten stattfinden. (taz)
Tashy: Da kann ich noch nicht so viel sagen. Ein eher toter Winkel in der Stadt, Zelte, von denen ich nicht weiß, was drin stattfindet. Der Zuccotti Park war komplett anders, der liegt am Broadway, im Financial District. Da hatten wir eine unglaublich hohe Sichtbarkeit.
Wie viele Aktive hat Occupy Wall Street derzeit noch?
Tashy: Schwer zu sagen, es gibt ja jetzt keine Besetzung mehr. Zu Aktionen kommen dann auf einmal ein paar tausend Menschen. In Arbeitsgruppen mit regelmäßigen Treffen sind bestimmt rund tausend Leute aktiv.
In den USA war und ist die Bewegung viel größer als hier. Woran liegt das?
Zuna: Ich glaube, es liegt vor allem daran, dass die Unterdrückungsmechanismen in Deutschland viel subtiler sind als in den USA. Hier denken ja alle, wir sind ein voller Sozialstaat, was habt ihr denn bitte noch zu meckern? Es ist nicht so einfach, Leute zu mobilisieren.
Daniel: Es hat aber auch interne Gründe. Ich glaube, wir haben einige Fehler gemacht und einige Dinge nicht vorhersehen können. Das hier ist eben eine neue Bewegung, die auch mit neuen Formen herumexperimentiert.
Ein Aktivist kommt: "Leute, bitte nicht auf den Tisch lehnen! Der sieht so aus, als ob er gleich in den Arsch geht, ja?"
Daniel: Wir haben viele Diskussion gehabt und Konflikte. Auch der Vernetzungsgedanke war am Anfang so klein: Irgendwie dachte man, wenn die Parteien und Organisationen etwas wollen, sollen sie zu uns kommen. Das haben die teilweise auch gemacht. Aber sie haben natürlich gemerkt, dass wir in den letzten Monaten nicht wirklich etwas erzeugt haben. Es gibt auch Leute mit einem kritischen Bewusstsein, die sich von Occupy distanzieren. Die Frage ist: Warum tun die das? Da haben wir den Fehler gemacht, nicht auf die zuzugehen.
Der Tisch-Aktivist kommt zurück und fährt Daniel an: "Würdest du bitte betonen, dass du für dich sprichst? Für mich sprichst du gerade nicht."
Zuna: Ja, das haben wir auch gelernt: dass das "ich" sehr wichtig ist. Das ist … auch schwierig. (lacht etwas verlegen)
Tashy, was haben Sie während der letzten Monate in New York von Ihren deutschen Freunden über die hiesige Occupy-Bewegung gehört?
Tashy: Die meisten haben die internationale Bewegung sehr interessiert verfolgt. Darüber, wie sie sich in Deutschland etabliert hat, haben sie sich eher verhalten geäußert. Eine Freundin, die aus dem linksradikalen Spektrum kommt und bei Ver.di ist, war hier auf einer Occupy-Demo mit einer Ver.di-Fahne und wurde ziemlich mies angemacht. Am Ende wurde sie sogar weggeschickt. Eine der Grundideen bei Occupy Wall Street war, von Bewegungen zu lernen, die schon Jahrzehnte aktiv sind. Wir haben einen Ältestenrat mit Leuten aus der Bürgerrechtsbewegung der 60er. Es gibt eine große Wertschätzung für deren Kämpfe, deren Erfahrung.
Daniel: Wir hatten letztens ein Neujahrstreffen und ich habe dazu aufgerufen, dass wir uns anderen, vorhandenen Kämpfen anschließen - wir sind ja nicht die Ersten, die etwas machen. Aber am Anfang hatten einige das Gefühl, eine Art Avantgarde zu sein.
Tashy: Wir wollten uns in New York nicht als avantgardistisch verstehen. Es ging nicht darum, eine Gemeinschaft aufzubauen, die sich wie eine Landkommune vom Rest entfernt, um möglichst "rein" zu bleiben. Das ist ein grundsätzlich anderer Ansatz, dass man sagt: Hey, es gibt kein "Außen".
Wie ging es nach der Räumung des Wall-Street-Camps weiter?
Tashy: Wir haben den Protest in die Stadtteile getragen, zum Beispiel mit der Aktion "Occupy Our Homes". Da haben wir in Brooklyn eine Familie unterstützt, deren Haus von einer Zwangsräumung bedroht war. Wir müssen zu den am stärksten Marginalisierten gehen, ihnen zuhören, eine inklusive Bewegung werden.
Wäre es eine Idee, in die sozial schwachen Kieze von Berlin zu gehen und aktiv zu werden?
Zuna: Die Idee hatte ich auch schon, dass man in die Kieze geht. Hier stehen zum Beispiel viele Jugendzentren vor der Schließung. Die könnte man auch einfach mal besetzen, sich für den Erhalt einsetzen. Dann wird man konkret aktiv, man macht was.
Tashy: Wobei es ja nicht darum geht, Räume zu besetzen, sondern Diskurse zu besetzen.
Gibt es derzeit in New York einen zentralen Treffpunkt?
Tashy: Wir treffen uns regelmäßig in dem großen Atrium der Deutschen Bank an der Wall Street. Eigentlich machen wir eine Art "Occupy Deutsche Bank" und halten dort unsere Treffen ab. Die General Assembly findet weiter im Zuccotti Park statt, aber wir machen auch viele dezentrale Aktionen.
Zuna: Hier würde man uns rausschmeißen bei der Deutschen Bank.
Tashy: Ja, wir werden auch ab und zu rausgeschmissen, aber dann kommen wir halt wieder zurück. (lacht)
Gibt es Unterschiede zwischen der deutschen und der US-amerikanischen Protestkultur?
Tashy: Sehr große sogar. Gesamtgesellschaftlich gab es in den USA bis Occupy Wall Street ein großes Vakuum an kritischen Debatten. Das hat sich stark geändert. Wie gesagt, Occupy knüpft an vorangegangene Bewegungen an, versucht aber, alle politischen Richtungen einzubeziehen. Bei der deutschen Linken habe ich oft den Eindruck, es findet erst mal eine Art ideologischer Scan statt, bevor überhaupt miteinander diskutiert wird.
Zuna: Das hat mir an Occupy von Anfang an gefallen, dieser bunte Mischmasch. Leider haben wir es hier nicht ganz hingekriegt. Aber es wäre auf jeden Fall mein Ziel. Ich muss nicht alle gut finden, aber ich kann trotzdem von ihnen lernen und mit ihnen zusammenarbeiten.
Was sind Ihre Ziele für 2012?
Daniel: Ich würde mir wünschen, dass wir eindeutig mehr Leute werden. Dass wir viele Menschen erreichen und in die Schichten vordringen, wo die Ausbeutung am stärksten ist.
Tashy: Es ist wichtig, ganz viel voneinander zu lernen, Verknüpfungen mit anderen Protestbewegungen aufzubauen. Occupy ist nur ein Name. Aber es geht darum, den Protest zu vernetzen und auf die Straße zu tragen.
Wie würden Sie die derzeitige Stimmung in Ihren Bewegungen beschreiben?
Tashy: Suchend, experimentierend, konzentriert.
Daniel: Hätten Sie mich vor zwei Wochen gefragt, hätte ich etwas ganz anderes gesagt. Jetzt sage ich: konstruktiv, erwartungsvoll, hoffnungsvoll.
Bei der anschließenden Asamblea klagt man über mangelnde Solidarität. Eine Aktivistin fragt, wer das Protokoll schreiben will, keiner meldet sich. Weil niemand Tashy der Runde vorstellt, tut sie es selbst - mit "solidarischen Grüßen aus New York" - und lacht freundlich in die Runde. Sie erntet müde Blicke. Ein Aktivist fragt, welche Strategie die New Yorker Aktivisten hatten, um sich einer Räumung zu widersetzen. Tashy fängt an zu erzählen, aber kaum jemand hört zu. Ein Unterstützer hat Suppe gebracht. Deren Verteilung scheint erst einmal wichtiger zu sein.
Auf dem Rückweg ist Tashy nachdenklich: "Bei Occupy Wall Street hat man sich auf die Asamblea gefreut, ist sich in die Arme gefallen, wenn man bekannte Gesichter gesehen hat. Hier scheint die Stimmung nicht besonders gut zu sein." Ihr Eindruck vom Camp? "Ich war überrascht. Wie naiv und selbstbezogen ist es, einfach nur ein Camp zu errichten und zu glauben, die Menschen kämen sofort und machten mit?" Ihr Rat an die Aktivisten in Berlin? "Unbedingt den Protest raus aus dem Camp auf die Straße tragen."
Am darauffolgenden Tag wird das Camp auf dem Bundespressestrand von der Polizei geräumt. Zwei Tage später fliegt Tashy Endres nach New York zurück. Am Sonntag wollen sich Berliner Occupy-Aktivisten am bundesweiten Aktionstag beteiligen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
SPD-Linker Sebastian Roloff
„Die Debatte über die Kanzlerkandidatur kommt zur Unzeit“
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los