Obszöne Berichterstattung: Das muss kacheln, Mann!
Im Fall des Moderators Jörg Kachelmann berichteten Medien über Details aus seinem Sexualleben. Paparazzi fotografierten ihn auf dem Gefängnishof. Das ist obszön.
Einer der wenigen moralischen Grundsätze, auf die sich eine säkulare Mediengesellschaft im 21. Jahrhundert einigen kann, besagt offenbar: Das Wetter lassen wir uns nur von jemandem vorhersagen, der ein geordnetes Privatleben hat.
Ja, ja, ja. Das Thema, um das es geht, ist zu ernst für Scherze. Oder jedenfalls für öffentliche Scherze. An Biertischen wird seit Monaten gewitzelt. Das übrigens ist nicht neu im Zusammenhang mit dem Thema Gewalt gegen Frauen. Aber ist das eigentlich das Thema?
Das wissen wir noch nicht. Ob Jörg Kachelmann in der Nacht zum 9. Februar dieses Jahres eine Frau vergewaltigt hat, können mit Bestimmtheit derzeit nur er selbst und die Frau sagen. Alle anderen, die sich dazu äußern, sind auf die vorläufigen Ergebnisse von prozessrelevanten Untersuchungen angewiesen, die bislang bekannt geworden sind. Oder sie begnügen sich der Einfachheit halber mit dem eigenen Bauchgefühl.
Nach wie vor offen ist auch, ob der Fernsehmoderator schuldig gesprochen wird. Eine Entlassung aus der Untersuchungshaft ist nicht dasselbe wie ein Freispruch. Die entscheidenden Fragen sind also nicht beantwortet. Mit einer Ausnahme: Alle, die sich in den letzten Monaten zu Wort gemeldet haben, stimmen darin überein, dass die bisherige Laufbahn des 52-jährigen Meteorologen zu Ende ist. Und zwar unabhängig vom Ausgang des Strafverfahrens.
Wahrscheinlich stimmt das. Dem ehemaligen Moderator Andreas Türck hat 2005 sein Freispruch in einem Vergewaltigungsprozess nichts genützt - er ist weg vom Schirm. Die Zeit schrieb seinerzeit: "Andreas Türck hat von jetzt an ein düsteres Kapitel in seiner öffentlichen Biografie." Das "düstere Kapitel": Türck hatte mit einer Frau, die er gerade erst kennen gelernt hatte, Oralsex.
Es gibt Hinweise, denen zufolge Jörg Kachelmann regelmäßig und dauerhaft Frauen betrogen hat. Weitere Hinweise deuten darauf hin, dass er Sexualpraktiken schätzt, die der Mehrheit der Bevölkerung nicht gefallen.
Was genau geht uns das alles an? Nichts.
Sollte Kachelmann eine Frau vergewaltigt haben, dann muss er bestraft werden. Falls sich das nicht nachweisen lässt, dann darf sein Sexualleben uns nicht interessieren.
So weit die Theorie. Die Praxis sieht natürlich anders aus. Je erfolgreicher jemand ist, desto toller ist Klatsch. Jörg Kachelmann war in Deutschland der Erste, der den Wetterbericht zu einer Show gemacht hat. Also unterliegt er dem öffentlichen Urteil.
Wahrscheinlich ist das unvermeidlich. Was hingegen nicht unvermeidlich ist: dass immer häufiger Informationen, die viel mit Persönlichkeitsrechten und dem Schutz der Menschenwürde zu tun haben, von Behörden "durchgestochen" werden.
Die Darmstädter Staatsanwaltschaft plaudert über angebliche Details des Sexuallebens einer HIV-infizierten Sängerin. Gerichtsvollzieher - Beamte mithin - lassen sich von Kamerateams zu Schuldnern begleiten, von denen nicht anzunehmen ist, dass sie zwischen einem Hoheitsakt und den begrenzbaren Rechten des Privatfernsehens zu unterscheiden vermögen. Das ist obszön.
Jörg Kachelmann ist von Paparazzi beim Hofgang fotografiert worden. Auch das ist obszön. Und noch obszöner ist es, dass die Geldstrafen für eine derartige Verletzung der Persönlichkeit, wenn sie denn verhängt werden, aus der Portokasse von Fernsehsendern bezahlt werden können.
All das dient nicht der Pressefreiheit - es schadet ihr. Weil sich vorhersehen lässt, dass überfällige Verbote, wenn sie denn endlich ausgesprochen werden, übers Ziel hinausschießen werden. Wie es anders geht, zeigt Duisburg. Da taucht ein Bürgermeister ab. Aber dort geht es ja auch tatsächlich um öffentliche Verantwortung. Nicht um Sexualpraktiken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachtcafé für Obdachlose
Störende Armut
++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
Hamas und Israel werfen sich gegenseitig vor, Gespräche zu blockieren