Oberbürgermeisterwahl in Kiel: Auf der Suche nach der stärksten Kraft
Parteilos gegen Grün: Bei der Oberbürgermeisterwahl spielt die Partei, die zu den Verlierern zählt, die entscheidende Rolle – die SPD.
Gerrit Derkowski gegen Samet Yilmaz: Am Sonntag sind rund 190.000 Kieler:innen aufgerufen, einen neuen Oberbürgermeister zu wählen. Die entscheidende Rolle bei dem Duell zwischen dem parteilosen Journalisten und dem grünen Politikwissenschaftler spielt eine Partei, die zu den Wahlverlierer:innen zählt – und zwar die SPD.
Im ersten Wahlgang kam die SPD, die zurzeit noch den Oberbürgermeister stellt, nur auf Platz drei. Dieses historisch schlechte Abschneiden – noch nie gab es in Kiel eine Stichwahl ohne SPD – sei ein Signal, sagt die Co-Vorsitzende des Kreisvorstands, Bianca Wöller: „Der Kinnhaken hat ordentlich gesessen.“
Der Vorstand will nun eine „deutliche sozialdemokratische Nachschärfung“ einleiten, ein „Weiter so!“ reiche nicht aus. Für die Stichwahl will die Partei keine Empfehlung aussprechen. Das sei „Ausdruck des Respekts vor der politischen Mündigkeit und Vielfalt der Kieler*innen sowie der eigenen Mitglieder“, heißt es in einer Mitteilung.
Im Stadtparlament, der Ratsversammlung, arbeitet die SPD mit den Grünen zusammen, die bei den vergangenen Wahlen stärkste Kraft in Kiel wurden. An dieser Zusammenarbeit wolle die SPD festhalten und eine „verlässliche Kraft“ im Rat bleiben.
Gerrit Derkowski startet mit Vorsprung
So müssen der 56-jährige Derkowski und der 44-jährige Yilmaz auf den letzten Metern allein mit ihrem Teams für sich werben. Beide setzen auf Straßenwahlkampf, suchen das Gespräch mit den Kieler:innen.
Gerrit Derkowski startet mit einem Vorsprung. Er erhielt in der ersten Runde knapp 29 Prozent der Stimmen, 4 Prozent mehr als sein Gegenspieler. Dem gebürtigen Flensburger Derkowski hilft sein Bekanntheitsgrad: Er arbeitet freiberuflich als Journalist und Moderator für den NDR, zeitweise moderierte er die ARD-Tagesschau. Während des Wahlkampfes lässt der Vater von drei Kindern diese Arbeit ruhen.
Als Parteiloser wolle er „einer für alle“ sein, verspricht er. Aber sein Wahlprogramm setzt auf einen wirtschaftsfreundlichen Kurs, den CDU und FDP unterstützen. Derkowski lehnt den Bau einer Stadtbahn ab, er will stattdessen mehr Busse und Fähren. Die Verwaltung will er „bürgerfreundlicher“ umgestalten.
Samet Yilmaz ist ein „echter Kieler Jung“, wie man hier sagt. Nach Hauptschulabschluss und Lehre machte er auf dem zweiten Bildungsweg sein Abitur, studierte und promovierte. Der Politik- und Islamwissenschaftler arbeitet in der Verwaltung, zuletzt im Kieler Innenministerium beim Verfassungsschutz. Auch er hat drei Kinder. „Kiel hat mir viele Chancen eingeräumt“, sagte der Hobbyfußballer und Jogger bei einer Podiumsdiskussion der Kieler Nachrichten.
Yilmaz setzt auf Wohnraum und Mobilität
Die Wahl sei richtungsweisend für Kiel. Er setze sich für „echten Klimaschutz“ ein, für eine „gute Mobilität“, die die Stadtbahn einschließt. Mehr bezahlbaren Wohnraum und mehr Arbeitsplätze will er schaffen.
Die Grünen waren bei den jüngsten Bundes- und Landtagswahlen in Kiel erfolgreich, holten – trotz der Übermacht der CDU mit ihrem beliebten Ministerpräsidenten Daniel Günther – Direktmandate im Stadtgebiet. Aber im Bürgermeisterwahlkampf hatte die Partei mit Problemen zu kämpfen.
So kam ein Antrag der Grünen in einem Ausschuss mit einer AfD-Stimme durch, eine Panne, wie sich die Fraktion zerknirscht entschuldigte. Yilmaz selbst wurde fälschlich in die Nähe der türkisch-nationalistischen Gruppe „Graue Wölfe“ gerückt – Ausgang war ein Anruf, den er erhielt.
Der Verfassungsschutz prüfte den Vorfall. Diese Tatsache wurde aus dem Dienst an die Presse durchgestochen, später verlangte die SPD eine weitere Überprüfung, die kein Ergebnis brachte.
Ob ihm das schadet? Die rund 21.600 Menschen, die im ersten Wahlgang die SPD unterstützten und deren Stimmen am Sonntag entscheidend sein könnten, seien in der Frage „vielfältig aufgestellt“, sagt Bianca Wöllner vom Kreisvorstand. „Größtenteils Einigkeit“ bestehe aber bei den Mitgliedern darin, dass Gerrit Derkowski keine Eignung für das Amt des Oberbürgermeisters mitbringe.
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