Oberbürgermeister İmamoğlu: Größere Ziele als Istanbul
Mit seiner Wiederwahl hat sich der CHP-Politiker als wichtigster Herausforderer des Präsidenten Erdoğan und seiner AKP in Stellung gebracht.
Als Weltstadt setze Istanbul damit auch ein Zeichen der Hoffnung an andere Metropolen weltweit, die ebenfalls von autokratischen Herrschern unter Druck stünden. İmamoğlu hatte schon immer ein großes Sendungsbewusstsein und hat schon in der Vergangenheit zu erkennen gegeben, dass er mit dem Bürgermeisteramt nicht das Ende seiner Karriere gekommen sieht.
Seit Montagmorgen ist er nun endgültig einer der kommenden Politiker der Türkei. Der 53-jährige Oberbürgermeister der größten Stadt des Landes hat sich durch seine Wiederwahl endgültig in der ersten Reihe der türkischen Politik etabliert. Da die zentralistische Türkei keine Bundesländer hat, sind die Oberbürgermeister der größten Städte so etwas wie die Ministerpräsidenten der Länder in Deutschland – İmamoğlu ist nun der Mächtigste unter ihnen.
Bevor er vor fünf Jahren erstmals als Kandidat für das Amt des Oberbürgermeisters für Istanbul antrat, war er politisch ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Er war Bezirksbürgermeister von Beylikdüzü, einem unbedeutenden Vorort im Westen der Metropole, und selbst in seiner Partei, der sozialdemokratischen CHP, noch weitgehend unbekannt. Die damalige Istanbuler Parteivorsitzende Canan Kaftancıoğlu schlug ihn als Kandidaten vor, weil er als praktizierender Muslim, der dennoch für die Werte der säkularen Republik eintrat, für die Mitte der Gesellschaft wählbar schien.
Schon länger in Erdoğans Visier
İmamoğlu schaffte das schier Unglaubliche und konnte der AKP nach 23 Jahren ununterbrochener Herrschaft trotz eines direkten Eingreifens von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, der eine Wiederholungswahl erzwang, die Stadt abnehmen. İmamoğlu, der mit der Wissenschaftlerin Dilek İmamoğlu verheiratet ist und mit ihr drei Kinder hat, erwies sich in den Kämpfen im Frühjahr 2019 als begnadeter Wahlkämpfer und furchtloser Politiker.
Auch nachdem Erdoğan zähneknirschend den Wahlsieg İmamoğlus akzeptieren musste, setzte er seine Kampagne gegen den neuen Bürgermeister fort. Er sperrte Istanbul Gelder aus dem Staatshaushalt, stoppte Investitionen und sorgte dafür, dass die AKP- Fraktion, die im Stadtparlament noch eine Mehrheit hatte, dem Oberbürgermeister viele Knüppel zwischen die Beine warf. Außerdem wurde İmamoğlu aus Ankara ein offensichtlich politisch motiviertes Strafverfahren angehängt, in dem er in erster Instanz verurteilt wurde.
Doch İmamoğlu wehrte das alles ab und konnte am Sonntag die Früchte seiner Arbeit einfahren. Sein Wahlsieg ist so hoch, dass es keine Zweifel mehr geben konnte, auch im Stadtrat hat die CHP jetzt die Mehrheit. İmamoğlu ist damit zum wichtigsten Herausforderer Erdoğans geworden. Bei den Präsidentschaftswahlen im Mai letzten Jahres verwehrte der damalige CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu dem Istanbuler Oberbürgermeister es noch, gegen Erdoğan anzutreten. In vier Jahren, bei den Präsidentschaftswahlen 2028, wird İmamoğlu wohl die Opposition gegen Erdoğan vertreten. Wenn der alternde Patriarch dann überhaupt noch mal antritt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen