Obdachlosigkeit: Notbetten sind Mangelware
Auch nach dem Kälteeinbruch schlafen in der Hauptstadt Menschen weiter auf der Straße.
Der Wind bläst eisig von Osten. Unter der S-Bahn-Brücke an der Geschwister-Scholl-Straße in Mitte liegen sechs Menschen eng an eng auf dem Bürgersteig. Es ist Samstag, kurz nach 21 Uhr. Aus einer gut besuchten Kneipe nebenan dröhnen Musik und Gelächter. Der Kontrast könnte nicht größer sein. Von den Menschen unter der Brücke ist nicht viel zu sehen. Nur ihre Konturen zeichnen sich ab, so tief haben sie sich in Schlafsäcke und Decken vergraben. Reglos liegen sie da.
Quasi über Nacht hat Berlin der Winter erwischt. Temperaturen bis zu minus 12 Grad zeigte das Thermometer am Sonntagmorgen an. Nach einem Dezember, der so warm war wie nie, kam das überraschend. Für Menschen, die auf der Straße leben, kann so ein plötzlicher Kälteeinbruch tödliche Folgen haben. Die Berliner Kältehilfe bietet deshalb in den Wintermonaten Notübernachtungsplätze und Nachtcafés für Obdachlose an. Aber erst wenn es richtig kalt ist, zeigt sich, ob genug Plätze vorhanden sind.
Die Berliner Kältehilfe wird von Caritas, Diakonie, Deutschem Rotem Kreuz (DRK) und Gebewo organisiert. Robert Veltmann von der Gebewo – Soziale Dienste koordiniert die Arbeit. Am Montag werde er sich ein Bild von der Auslastung der Einrichtungen nach dem Wintereinbruch verschaffen, sagte Veltmann zur taz. „Wenn die Plätze nicht reichen, werden wir aufstocken.“ Mit der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales stehe er deshalb in ständigem Austausch. Es gebe die Option, das Angebot bei Bedarf sofort zu erweitern.
Wie viele Menschen in Berlin genau obdachlos sind, weiß niemand. Ihre Zahl wird auf 3.000 bis 5.000 geschätzt. Während der Wintersaison, die vom 1. November bis 31. März reicht, werden diesmal rund 700 Notübernachtungsplätze vorgehalten. Das sind 170 mehr als im vorigen Jahr. Angesichts der Vielzahl von Obdachlosen mutet das an wie ein Tropfen auf den heißen Stein.
Im warmen Dezember waren die Einrichtungen Veltmann zufolge zu 90 Prozent ausgelastet. „Das heißt, es waren immer noch Plätze frei.“ Bei einem Wetterwechsel ändere sich das erfahrungsgemäß. Im Notfall könne die Gebewo sofort 40 weitere Plätze anbieten.
Aktuell gibt es in Berlin 16 Notübernachtungsstellen und 13 Nachtcafés. Die Stadtmission ist mit 120 Plätzen in der Lehrter Straße die größte Einrichtung. Stadtmission und DRK betreiben zudem jeweils einen Wärmebus. Der fährt durch die Stadt, verteilt Schlafsäcke und bringt Obdachlose zu den Notunterkünften.
„Es fehlen immer Schlafsäcke“, appelliert Dieter Puhl, Leiter der Bahnhofsmission am Zoo, an das Spendenbewusstsein der Berliner. Jeden Tag gebe er 30 Schlafsäcke an Bedürftige aus. „Der Vorrat reicht noch bis Dienstag, dabei geht der Winter erst los“, sagte Puhl. Dass Obdachlose selbst bei Minusgraden auf der Straße schlafen, sei kein Einzelfall, so Puhl. Nicht immer sei der Grund, dass die Notübernachtung überfüllt sei. Manche hätten einfach keine Lust, in einem Massenquartier zu nächtigen. Schlafen im Freien sei für diese Menschen wie ein Pokerspiel. Sie hielten sich für gesundheitlich fit, seien es aber gar nicht. 60 Prozent seien psychisch beeinträchtigt, dazu komme ein hoher Alkoholpegel. „Da kann sehr leicht der Eindruck entstehen, es sei gar nicht kalt“.
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