Obdachlosigkeit in Deutschland: Erst krank, dann wohnungslos
Die Zahl der Menschen, die mit schweren psychischen Erkrankungen auf der Straße landen, wächst. Was kann man dagegen tun?
Für Andreas Jung war es ein Absturz ins Bodenlose. Mit Mitte 30 erkrankte der Soziologe an einer Psychose. Er wurde in eine Klinik zwangseingewiesen, doch bereits nach sechs Wochen gegen seinen Willen wieder entlassen. Weil er lieber therapeutische Gespräche führen wollte, als Medikamente zu nehmen, sagt Jung. „Das war unfassbar“, erinnert er sich. „Es war ja nicht so, dass ich keine Krankheitseinsicht gehabt hätte.“
Zu Hause erwartete ihn der nächste Tiefschlag: Der Vermieter hatte ihm die Wohnung gekündigt. Angeblich wegen eines Wasserschadens, wegen dem nun die gesamte Wohnung renoviert werden müsse. Für Jung ein vorgeschobener Grund, um ihn loszuwerden. „Ich bin dann in eine Obdachlosenunterkunft gekommen, wo man sich die Zimmer mit anderen teilen musste, teilweise mit Menschen, die mit meiner Problematik nichts zu tun hatten.“
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Jung ernährte sich nicht mehr richtig und verwahrloste zusehends, eine ärztliche Betreuung gab es nicht. Er entschied sich, zurück in die Psychiatrie zu gehen und die medikamentöse Behandlung zu akzeptieren. Im Anschluss daran ging es für ihn in eine betreute Wohngruppe. Das und eine Psychotherapie hätten ihm letztlich geholfen, sich zu stabilisieren.
Heute arbeitet Jung als Genesungsbegleiter beim Marburger Sankt-Elisabeth-Verein. In dieser Funktion will er verhindern, dass andere Betroffene das gleiche Schicksal erleiden wie er.
Viel zu beengte Wohnverhältnisse
Doch wie taz-Recherchen im Umfeld von Betroffenenvereinen und Kliniken zeigen, landen immer mehr Menschen mit psychischen Erkrankungen in der Obdach- bzw. Wohnungslosigkeit.
Da ist zum Beispiel die Geschichte von dem jungen Mann, der nach seiner viel zu schnellen Entlassung so instabil war, dass seine Eltern ihn nicht aufnehmen konnten, auch aufgrund von beengten Wohnverhältnissen. Er ließ sich dann in einem Zelt am Rhein nieder. Wegen des Hochwassers musste er diesen Platz aber räumen. Nun haben die Angehörigen jeden Kontakt zu ihm verloren und wissen nicht, wo er sich aufhält.
Und dann ist da die Geschichte von der Mutter, die sich um ihre psychisch erkrankte Tochter kümmern wollte, dabei aber selbst Gefahr lief, ihre Wohnung zu verlieren, weil sich die Nachbarschaft über das aggressive Verhalten der jungen Frau beschwerte.
Als Vorsitzender des Selbsthilfevereins „Rat und Tat“ für Angehörige von psychisch Erkrankten mit Sitz in Köln ist Rolf Fischer ständig mit Menschen konfrontiert, die sich um ihre erkrankten Familienmitglieder sorgen. Immer mehr von ihnen ängstigten sich, wo diese nach ihrem Aufenthalt in der Psychiatrie unterkommen sollen, berichtet Fischer. „Es gibt nicht wenige Fälle, wo die Menschen in einem so schlechten Zustand entlassen werden, dass es den Angehörigen nicht zuzumuten ist, sie aufzunehmen, schon alleine, um sich selbst zu schützen.“
Ein gutes Entlassungsmanagement sei deshalb notwendiger denn je. Dazu gehört aus seiner Sicht nicht nur die Sicherstellung der fachärztlichen Weiterbehandlung, sondern auch, dass die Versorgung mit ausreichend Medikamenten gewährleistet ist. „Es muss klar sein, wohin die Patienten entlassen werden, manche Kliniken verfügen über direkt angeschlossene Einrichtungen.“ Doch derartige Einrichtungen oder etwa Abschlussgespräche mit klinischen Sozialarbeiter*innen seien eher die Ausnahme als die Regel.
Patient*innen viel zu schnell aus Kliniken entlassen
Stattdessen würden die Kliniken dazu neigen, die Patient*innen sehr schnell zu entlassen: „Schneller jedenfalls, als es dem Krankheitsbild angemessen wäre.“ Der kurze Klinikaufenthalt verstärke ihren unsicheren Verbleib noch, weil oft schlicht die Zeit fehle, um sich angemessen darum zu kümmern, kritisiert Fischer.
Das Problem ist, wie in diversen Hintergrundgesprächen deutlich wird, auch Teilen der Ärzteschaft bewusst, öffentlich äußern möchte sich aber niemand. Von einem „deprimierenden Drehtür-Effekt“ spricht beispielsweise der Arzt einer Klinik. Er räumt ein, dass oft schon bei der Entlassung klar sei, dass die Betroffenen bald wiederkämen, umso eher, wenn prekäre Wohnverhältnisse auf sie warten würden.
Den an dieser Stelle vom medizinisch-sozialen Fachpersonal gerne angeführten „freien Willen“ der Betroffenen, zu dem auch gehöre, dass diese sich schließlich selbst in eine solche prekäre Lage begeben würden, hält Fischer für fatal. „Ein Mensch, der gesund oder stabilisiert ist, der wird in den meisten Fällen niemals aus freien Stücken in die Obdach- oder Wohnungslosigkeit gehen“, sagt er.
Henning Daßler, Professor für Gemeindepsychiatrie, Rehabilitation und Beratung an der Hochschule Fulda, teilt diese Einschätzung: „Wenn man weiß, was schwere psychiatrische Erkrankungen mit Menschen machen, etwa bei Sucht oder Psychosen, dann greift so ein Ansatz zu kurz, dann ist das Unsinn, das als freien Willen zu deklarieren.“
Daßler hat gerade das Fachbuch „Wohnungslos und psychisch erkrankt“ herausgegeben. Im Telefongespräch mit der taz bedauert er die fehlende solide Forschung und Bedarfserfassung in diesem Bereich. Für ihn ist der hart umkämpfte Wohnungsmarkt in den Großstädten einer der größten Treiber der sich zuspitzenden Situation: „In der Wohnungsnotfallhilfe treten nach Aussage vieler Fachkräfte psychisch Kranke viel stärker in Erscheinung.“
Doch keiner weiß genau, wie viele Psychiatriepatient*innen nach ihrem Klinikaufenthalt in die Obdach- oder Wohnungslosigkeit entlassen werden. Je nach Erhebung, Schätzung oder Untersuchung wird davon ausgegangen, dass zwischen 50 und 90 Prozent aller Wohnungs- und Obdachlosen an einer psychischen Erkrankung leiden.
„Dramatischer sozialer Misstand“
Aktuell versucht das Kölner LVR-Institut für Versorgungsforschung Zahlen für Nordrhein-Westfalen zu erheben. Das endgültige Ergebnis soll im Sommer vorgestellt werden.
„Das ist ein dramatischer sozialer Missstand“, mahnt Daßler. Er betont, dass die UN-Behindertenrechtskonvention, die den Schutz jener Menschen garantieren soll, auf den Großteil psychisch kranker Obdach- und Wohnungsloser angewendet werden müsse, da diese stark beeinträchtigt seien.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse seiner Publikation formuliert er so: „Wir müssen viel mehr die Erfahrungen von Betroffenen und Angehörigen miteinbeziehen. Die fachliche Sicht neigt immer dazu, sich zu verselbstständigen und deren Sicht zu vernachlässigen.“
Daßler weist während des Gesprächs auch auf Beispiele aus dem Ausland hin, wo mit der Problematik besser umgegangen werde, insbesondere was die Niedrigschwelligkeit beim Zugang zu Hilfeangeboten angeht. In den Niederlanden etwa werden multiprofessionelle Teams eingesetzt, die sich aus pflegerischen, therapeutischen und ärztlichen Fachkräften rekrutieren und die den Kontakt zu den Erkrankten suchen – egal ob sie eine Wohnung haben oder nicht.
In Deutschland sei das jedoch schwer umzusetzen, weil in der psychiatrischen Versorgung immer wieder Trennlinien zwischen Behandlung, Rehabilitation und kommunaler Notversorgung existieren und die jeweiligen Akteur*innen zu wenig miteinander kooperieren würden, berichtet Daßler. So dürfe etwa ein Arzt, der bei einem sozialpsychiatrischen Dienst arbeite, meist keine Medikamente verabreichen, obwohl er dazu fachlich in der Lage sei.
Diese Situation kritisiert auch der ehemalige Betroffene und heutige Genesungsbegleiter Andreas Jung: „Unser Gesundheitssystem ist so zergliedert, dass die Dinge nicht ineinandergreifen. Es dauert viel zu lange, bis der, der Hilfe braucht, sie auch bekommt.“ Doch Menschen, die sich in einer extremen Situation befänden, hätten nicht die Ressourcen, um so lange durchzuhalten.
Am „Tag der Wohnungslosen“ im September war Jung deshalb mit der Berliner Psychiaterin Stefanie Schreiter vom „Forschungsnetzwerk Wohnungslosigkeit und Gesundheit an der Charité“ beim Bundespräsidenten.
Im Schloss Bellevue präsentierten sie Ideen, wie sich die Situation psychisch erkrankter Wohnungsloser verbessern ließe: mit einer aufsuchenden psychiatrischen Versorgung direkt auf der Straße zum Beispiel. Mit sogenanntem „Peer Support“, der ehemals selbst Betroffene wie Jung einbindet. Mit einem besseren Zugang zu stationären und ambulanten Behandlungsmöglichkeiten. Und vor allem: durch die schnelle und unkomplizierte Versorgung mit Wohnraum.
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