Obdachlosigkeit in Berlin: Kollidierende Lebenswelten
Die Berliner Stadtmission eröffnet eine neue Beratungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte am Bahnhof Zoo. Es ist ein bundesweit einmaliges Projekt.
Keine feste Bleibe Als wohnungslos gelten Menschen, die keinen gültigen Mietvertrag besitzen und etwa behelfsmäßig in Wohnheimen oder bei Freunden übernachten. Als obdachlos gelten Menschen, die weder festen Wohnsitz noch Unterkunft besitzen und deshalb auf der Straße, in Parks oder auf Bahnhöfen schlafen.
Schätzungen Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) ging 2020 von rund 34.000 Wohnungslosen allein in Berlin aus. Laut Berliner Stadtmission schätzen Caritas und Diakonisches Werk die Anzahl der obdachlosen Berliner:innen auf etwa 11.000. Eine Zählung im Januar 2020 ergab mit 1.976 zwar eine viel geringere Zahl, viele Verbände kritisierten aber, dass etwa Parks oder nicht öffentlich zugängliche Orte nicht berücksichtigt wurden. (tk)
Am Mittwoch wurde das Zentrum digital eröffnet. Via Videobotschaft war unter anderen der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) dabei. Tags zuvor hatte Projektkoordinator Nebel der taz erklärt, das Neue – die „Vision“ in Nebels Worten – sei das Zusammenspiel der „drei B“ des Projekts: Beratung, Bildung und Begegnung.
Beratung bedeute, dass Psycholog:innen hier niedrigschwellige Hilfestellungen anbieten, die von jeder:m kostenlos in Anspruch genommen werden können. Dies geschehe bereits jetzt, nur eben draußen, erklärt Psychologin Dagmara Lutoslawska. Doch nun stünden Schutzräume zur Verfügung, die auch eine längerfristige und regelmäßige Betreuungsarbeit ermöglichen.
Parallel soll es laut Nebel Bildungsangebote geben, die das Ziel verfolgen, Schulklassen, Institutionen und Interessierte für die oft schleichende Entstehung von Armut und Obdachlosigkeit zu sensibilisieren. Unter anderem sollen die Sicherheitsdienste der Deutschen Bahn hier Schulungen erhalten. Es gehe darum, die oft gravierend unterschiedlichen Lebenswelten miteinander zu verbinden, so Nebel.
Begegnungen auf Augenhöhe
Dieses Ziel sei letztlich aber nur durch persönliche Begegnung zu verwirklichen, was durch vielfältige kulturelle und religiöse Veranstaltungen ermöglicht werden soll. Zu Konzerten, Filmabenden oder Andachten seien obdachlose wie nicht obdachlose Menschen eingeladen, sagt Nebel. So könnten Begegnungen in einem würdevollen Rahmen entstehen. Zudem würde obdachlosen Menschen die Partizipation am gesellschaftlichen Leben ermöglicht.
Das Zentrum befindet sich in unmittelbarer Nähe der Bahnhofsmission und des Hygienecenters in der Jebensstraße, die ebenfalls von der Berliner Stadtmission betrieben werden. Hier seien die Räumlichkeiten aber zu eng geworden, so Nebel. Die Deutsche Bahn habe daraufhin das Areal für 25 Jahre samt den laufenden Betriebskosten mietfrei zur Verfügung gestellt.
Die Baukosten in Höhe von rund 2,4 Millionen Euro seien von Bund, Senat, der Deutschen Klassenlotterie und anderen privaten Spender:innen finanziert worden. Um- und Ausbau seien in nur anderthalb Jahren erfolgt.
Nebel will sich bei der Umsetzung seiner „Vision“ vom Glauben leiten lassen und zu fortwährender Veränderung bereit sein. Denn Probleme gibt es genug, wie die Psycholog:innen Dagmara Lutoslawska und Viola Lange berichten. Zum Beispiel besäßen viele Menschen ohne Papiere gar keinen Anspruch auf staatliche Hilfe, weshalb ihnen kaum geholfen werden könne. Alle Probleme kann das neue Zentrum am Bahnhof Zoo also nicht lösen – aber vielleicht kann es ein Anfang sein.
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