OBRIGHEIM IST EIN SYMBOL FÜR DEN LÜCKENHAFTEN ATOMKONSENS: Die realpolitische Schlachtbank
Stellen wir uns die gestrige Szene mal vor: Der atomare Erzfeind Gerhard Goll sitzt dem grünen Erzengel Jürgen Trittin gegenüber. Herr der südwestdeutschen AKWs der eine, oberster AKW-Abschalter der andere. Hände schütteln, Vertrag unterschreiben, Statements mit Worten wie „Meilenstein“, „unumkehrbar“, „Konsens“ abgeben. Sicher: Beschlossen war die Stilllegung des AKWs Obrigheim schon. Seit gestern ist sie auch terminiert.
Tatsächlich ist dieser „unumkehrbare“ „Konsens“ ein Meilenstein. Ein weiterer. Die Bündnisgrünen beweisen erneut, dass sie Realpolitik so perfekt beherrschen, als hätten sie die einst mit der Muttermilch aufgesogen. Dumm ist nur, dass dieser Akt der Nährung noch vielen anders im Gedächtnis ist. War da nicht was? Ein kompromissloser Friedens-, Umwelt-, Antiatommythos?
„Obrigheim-Kompromiss wird Belastungsprobe für Grünen-Parteitag“, hatten die Medien vor dem Bremer Koalitions-Abwink-Parteitag im Oktober getitelt. Hinter der Abstimmung „Machterhalt“ gegen „Schlachtbank“ stand auch die Frage: Sind die Bündnisgrünen anders als die anderen Parteien? Ja zum Koalitionsvertrag – gegen die schon beschlossene Abschaltung von Obrigheim im Januar 2003? Natürlich, grummelten die Grünen. Um dann doch die Macht zu wählen.
Erst der Hannoveraner Zwei-Köpfe-kürzer-Parteitag sollte die Hoffnung stillen: Die Bündnisgrünen sind doch eine andere Partei. Eine, die sich nicht durch realpolitische Notwendigkeiten manipulieren lässt. Eine, die nicht schluckt, was die Parteispitze serviert, und sich nicht durch Konsens einlullen lässt. Damit wird klar, dass es bei der Urabstimmung zur Trennung von Amt und Mandat um mehr geht als um die Führungsstruktur der Partei. Die Parteimitglieder entscheiden dabei über den künftigen Charakter der Grünen.
Falls sich die Parteispitze bei der Abstimmung durchsetzt, hat der grüne Realpolitiker Trittin schon mal was zu bieten: Mit dem Atomlobbyisten Goll schrieb er gestern ein realpolitisch relevantes Abschaltdatum fest. Der Schrottreaktor Obrigheim wird pünktlich zum Wahlkampfauftakt 2005 vom Netz genommen. Dann aber ganz bestimmt – vielleicht – wirklich. NICK REIMER
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