OB-Kandidat Kuhn über Stuttgart: „Ich bin ein Wertkonservativer“
Fritz Kuhn, grüner Oberbürgermeisterkandidat für Stuttgart, über die Öko-Modernisierung der Schwabenmetropole, Heimatverbundenheit und Ernst Bloch.
taz: Herr Kuhn, Sie sind Mann und Realo. Muss neben Ihnen nicht noch eine grüne Fundi-Frau in Stuttgart antreten?
Fritz Kuhn: Sehr witzig. Bei Oberbürgermeisterwahlen kandidiert eben nur einer, das ist auch bei den Grünen so üblich. Ich bin von den Grünen in Stuttgart gefragt worden. Und die wussten schon, dass ich ein Mann und kein Doppelspitz bin.
Stuttgart galt mal als langweiligste Stadt der Welt.
Ach, das sind doch alles überholte Klischees. Stuttgart hat mit bald 600.000 Einwohnern eine interessante Größenordnung, bietet das Gemeinsam-mit-anderen-ausgesetzt-Sein, das der Soziologe Richard Sennett als Urbanität definiert – gleichzeitig gibt es fast dörfliche Ecken. Vor allem gibt es hier einen kulturellen Aufbruch: Die Leute sitzen nicht mehr im Reihenhaus und warten, bis die Kinder groß sind, sondern sie mischen sich ein und sind bereit, diese Stadt zu ihrer Stadt zu machen.
Sie lebten lange hier: Ist Stuttgart Heimat für Sie?
Der 56-Jährige ist Kandidat der Grünen für das Amt des Oberbürgermeisters der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart. Er war Bundes- und Fraktionsvorsitzender in Berlin, zuletzt Fraktionsvize. Dieses Amt hat Kuhn soeben aufgegeben. Bis auf Weiteres bleibt er Bundestagsabgeordneter.
Geboren ist Kuhn in Bad Mergentheim, aufgewachsen in Memmingen. In Tübingen hat er Germanistik und Philosophie studiert und die baden-württembergischen Grünen mit gegründet. Für die war er 16 Jahre im Landtag. Zwölf davon als Fraktionsvorsitzender.
Bei der OB-Wahl im Oktober tritt Kuhn gegen den parteilosen Unternehmer Sebastian Turner an, den die CDU nominiert hat – und die FDP unterstützt. Auch SPD und Linke sowie die Bürgerbewegung „Meisterbürger“ wollen Kandidaten stellen.
Für mich ist es wie eine Heimkehr. Und Heimat vielleicht so, wie der Philosoph Ernst Bloch sie definiert: als Ort, an den man zurückgeht, wie in die Kindheit. Und aber auch als Ort, an dem noch keiner war. Bloch hat das Utopische betont, also das, was in Heimat noch zu verwirklichen wäre.
Ist Ernst Bloch für Sie, was Hannah Arendt für Ministerpräsident Kretschmann ist – eine ständige Zitatquelle?
Nein. Aber Bloch hat mich immer fasziniert, weil er den Utopiebegriff vor dem positivistischen Denken bewahrt hat. Manchmal trotzig, wie ein Kind. Und er hat immer versucht, den Konservativen die Hegemonie über die Definition des Heimatbegriffs wegzunehmen. Das war eine große kulturpolitische Leistung.
Was heißt das für Stuttgart?
Es gilt in Stuttgart, viele alte Orte zu bewahren, aber auch viel radikal umzukrempeln. Ein Beispiel: Eine Stadt, die so reich ist, muss ihre ökologischen und sozialen Fragen lösen. Die klassische Stuttgarter Antwort war bisher immer: mehr Beton. Wenn sich die städtische Politik minderwertig fühlte, nahm sie Geld in die Hand und ergoss sich in Beton. Das muss aufhören.
Was sind Ihre Antworten auf Stuttgarter Minderwertigkeitskomplexe?
Es gibt keinen Grund dafür. Wir müssen auf qualitativ Neues stolz werden. Ökologische Modernisierung muss zum Leitthema dieser Stadt werden. Stuttgart ist ohne Fahrzeugbau nicht denkbar, es fehlt jedoch an ökologisch reflektierter Mobilität. Außerdem muss die Stadt verstehen, dass Armut alle angeht und nicht nur die Armen. Dazu kommt die Bürgergesellschaft. Der Widerstand gegen Stuttgart 21 muss zum Ergebnis haben, dass bei großen Strukturfragen die Bürger in Zukunft vorher gefragt werden und nicht hinterher. Dafür stehe ich.
Stuttgart 21 haben Sie abgehakt?
Wie könnte ich? Ich hielt schon 1996 eine Rede im Landtag, in der ich Alternativen zum Tiefbahnhof-Projekt forderte. Aber ich sehe auch, dass es aus der schwarz-gelben Zeit rechtsgültige Verträge gibt, auf die sich die Bahn berufen kann. Und der Volksentscheid fand keine Mehrheit für den Ausstieg. Deshalb halte ich nichts davon, weiter die Illusion zu schüren, ein solcher sei noch möglich. Nur die Bahn selbst kann noch aussteigen. Aber wichtig wird, was auf der frei werdenden Fläche passiert. Das ist noch offen.
Was ist Ihr Plan?
Stuttgart hat einen großen Mangel an preisgünstigem Wohnraum. Das ist vielleicht die größte soziale Frage in der Stadt. Einkommensschwache Familien werden immer weiter an den Rand der Region gedrängt bis hinaus ins Hohenlohische oder in den Ostalbkreis. Deshalb muss es einen Anteil Wohnungen auf der Fläche geben. Außerdem muss der Ort kulturell bespielt werden. Auf Protzarchitektur können wir verzichten.
Heiner Geißler behauptet auch, dass da künftig auch Menschen mit wenig Geld wohnen werden. Das glaubt aber kaum jemand.
Ich sage: Ich werde im Falle eines Sieges Sozialwohnungen auf der Fläche durchsetzen – und hätte da wohl auch die Bürger auf meiner Seite. Aber es reicht nicht, mittenrein auf Stuttgart 21 ein schönes Viertel zu bauen. Das Konzept muss die benachbarten Flächen miteinbeziehen.
Nicht wenige neue Wähler sind enttäuscht, weil sie die Grünen zur Verhinderung des Tiefbahnhofs wählten. Die wenden sich wieder ab.
Ja, manche sind enttäuscht. Und sie projizieren diese Enttäuschung auf den Kretschmann, die Grünen …
… und auf Sie.
Ich höre Kritik an den Grünen aus der Bewegung, das stimmt, aber auch Unterstützung für mich. Um eine Frage kommt kein S-21-Gegner drum herum: ob er nur wegen seiner Enttäuschung über Grüne zulassen will, dass dieser Machtkampf zugunsten der Schwarzen ausgeht, die ja für den Bahnhof verantwortlich sind. Da wird die Quittung auf die Falschen ausgestellt. Und eins darf man nicht vergessen: OB-Wahlen sind in Baden-Württemberg keine reinen Parteienwahlen, sondern auch Personenwahlen. Ich traue mir zu, als Person trotzdem die Mehrheit zu kriegen.
In Stuttgart muss angeblich jetzt ganz viel versöhnt werden. Wie streitet man da im Wahlkampf?
Machen Sie sich mal keine Sorgen. Dieser Wahlkampf wird eine richtige Auseinandersetzung über die Frage …
… wer besser versöhnen kann.
Nein, ob die Stadt immer noch der CDU gehört. Natürlich wird es auch darum gehen, Brücken zu bauen. Nehmen Sie nochmal den Volksentscheid zu Stuttgart 21. Die Minderheit muss verstehen, dass die Mehrheit die Mehrheit ist. Und die Mehrheit muss wissen, dass sie eine 48-Prozent-Minderheit nicht verhöhnen kann. Im Landtag standen CDUler nach dem Entscheid auf den Tischen und grölten – das geht nicht.
Welche Macht in Stuttgart wollen Sie ablösen?
Ein klassisches Machtgebilde besteht aus der Mehrheits-CDU, Teilen der Wirtschaft und Investoren. Die Christdemokraten haben sich in der Vergangenheit bedingungslos den Investoren unterworfen. Auf der anderen Seite steht ein aufgeklärtes Bürgertum, das sich um die Stadt kümmert. Und auf dieser Seite stehen wir Grünen und oft auch die SPD.
Auch das altkonservative Bürgertum wird für sich in Anspruch nehmen, aufgeklärt und kümmernd zu sein.
Erhard Eppler hat das konservative Spannungsfeld der CDU umschrieben mit dem Unterschied zwischen Werte- und Strukturkonservativen. Die einen wollen die Natur erhalten oder den Zusammenhalt in der Gesellschaft, die anderen möchten Macht erhalten. Das Problem der CDU ist doch, dass sie erstens keine Großstadtpartei ist. Und dass zweitens die Wertkonservativen eine Minderheit stellen. Während ich für die baden-württembergischen Grünen behaupte, dass wir ein Gespür für Werte haben – sonst hätte Kretschmann diesen Erfolg nicht.
Würden Sie sich als Wertkonservativer bezeichnen?
Ja, ich bin ein Wertkonservativer. Dass Menschen in der Nachbarschaft auch füreinander verantwortlich sind, ist für mich ein wertkonservativer Gedanke. Die Idee der Subsidiarität auch – Armut geht alle im direkten Umfeld an. Nur gibt es einen wichtigen Punkt bei diesem Wertkonservativismus: Du musst zu radikalen Veränderungen bereit sein, damit Wertvolles erhalten bleiben kann.
Herr Kuhn, ist es nicht Ironie der grünen Geschichte, dass Sie einst mangels Machtperspektive aus Stuttgart flüchteten – und Kretschmann blieb einfach sitzen und ließ das Amt zum Mann kommen?
Tja, es kommt immer anders, als man denkt. Als ich 2000 in die Bundespolitik ging, ging es der Partei sehr schlecht. Da haben viele gesagt: Wie kannst du so blöd sein? Du bist hier der Chef der Landtagsfraktion und jetzt gehst du in diesen Intrigenstadel? Aber es war richtig für mich, nach zwölf Jahren Fraktionsvorsitz im Landtag etwas anderes zu machen. Und jetzt wäre es gut, nach zwölf Jahren wieder zurückzukehren, um zu gestalten.
Dafür müssen Sie den parteilosen CDU-Kandidaten und ehemaligen Werbeagenturchef Sebastian Turner schlagen. Was halten Sie von ihm?
Ich kenne ihn noch gar nicht. Aber was ich bisher lesen konnte, hat mich nicht übermäßig beeindruckt.
Was genau?
Wenn er gesagt hat, er stünde fürs Geschäft und ich stünde fürs Geschwätz, dann perlt das bei mir ab wie beim Seehund das Wasser. Ansonsten kann ich nur sagen: Er kandidiert halt nicht für den Chefposten einer Werbeagentur, sondern für ein wichtiges politisches Amt.
Wird das Ihre Strategie, ihn als Werbefuzzi abzuwerten?
Nein, ich werde ihn nicht unterschätzen. Das ist nicht meine Art.
Da ist aber noch eins: Sie brauchen die SPD, um OB zu werden.
Also: Rumzuhüpfen und der SPD sagen zu wollen, ihr dürft nicht kandidieren, das ist nicht mein Stil. Ich glaube aber, dass sich die Desaster der Vergangenheit in den zweiten Wahlgängen nicht wiederholen werden. Die SPD hat vor 16 Jahren verhindert, dass Rezzo Schlauch OB wurde. Boris Palmer hat vor acht Jahren zurückgezogen und für Schuster von der CDU votiert. Also steht es jetzt unentschieden. Das kann man als ewigen Fluch weitertreiben – oder man lässt es. Ich glaube, dass man es lässt.
Haben Sie die entsprechenden Gespräche schon geführt?
Nein, da muss man keine Gespräche führen. Erstens regiert man im Land zusammen, zweitens will man neun Monate später im Bund eine rot-grüne Regierung stellen.
Dass Winfried Kretschmann Ministerpräsident ist und nicht Nils Schmid, ist für die SPD traumatisch. Und nun noch ein Grüner statt eines Roten?
Da haben Sie zwar Recht, aber in Stuttgart leiden sowohl die Grünen als auch SPD-Anhänger vor allem unter der schwarzen Vergangenheit. Außerdem denke ich, dass ich viele rot-grüne Wechselwähler erreichen werde. Da habe ich überhaupt keine Sorge, dass das schiefgeht. Das ist auch einfach eine Frage praktischer politischer Vernunft.
Wer ist vernünftig, wenn die Psyche krank ist?
Ach Kränkungen sind es, keine Krankheiten. Aber diese Verletzungen sind verheilt, vielleicht ist noch ein bisschen Schorf drauf, aber den muss man jetzt nicht wieder aufkratzen. Die Wähler wollen nicht, dass die CDU sich da wieder festsetzt: Darum geht es.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken