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Nur ein Foto hat sie noch

Foto: Jens Uthoff

Vor dreieinhalb Jahren war Liusiena Zinovkina zuletzt in ihrer Heimatstadt Melitopol. Wie sich die Stadt nahe dem Asowschen Meer verändert hat, bekommt die Ukrainerin nur aus dem Exil in Berlin mit, wenn sie mit Freunden oder Verwandten von dort chattet. „Sie sagen mir, ich würde die Stadt nicht wiedererkennen, wenn ich je zurückkehren würde“, sagt sie. „Ein Bekannter hat mir Fotos geschickt, es sah schrecklich aus. An den Straßen die großen Werbetafeln mit russischer Propaganda, und überall die Farben weiß-blau-rot.“ Niemand soll übersehen, dass die 150.000-Einwohner-Stadt in russischer Hand ist. Bereits am dritten Kriegstag, dem 26. Februar 2022, wurde Melitopol eingenommen.

Liusiena Zinovkina hat die Stadt kurz vor Beginn des russischen Angriffskriegs verlassen, weil sie für eine berufliche Weiterbildung nach Kyjiw zog. Es war ihr Glück, sonst würde sie heute unter Besatzung leben. Ihr Mann Kostiantyn Zinovkin aber hielt sich damals in Melitopol auf, ihn musste sie zurücklassen. Heute sitzt er in Rostow am Don im Gefängnis; im Mai 2023 war er vom russischen Geheimdienst FSB gefangen genommen worden, weil er an Protesten gegen die Besatzung teilgenommen hatte. „Unter anderem wird ihm die Mitgliedschaft in einer terroristischen Gruppierung vorgeworfen“, sagt Zinovkina, „ihm drohen zwanzig Jahre Haft.“ Vor zwei Wochen war sie zuletzt in Kontakt mit ihrem Mann, er sei gesundheitlich einigermaßen stabil, sagt sie. Laut der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) sind mindestens 14.000 Zivilisten von russischen Beamten oder Militärs festgenommen und verschleppt worden, die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Ein Urteil für Zinovkinas Mann wird im November erwartet.

Zinovkina wurde 1992 in einer Kleinstadt in der Nähe von Melitopol geboren und wuchs dort auf. Ende der Nullerjahre zog sie nach Melitopol, studierte Sozialpädagogik. 2012 lernte sie Kostiantyn in einem Ferienlager kennen, in dem sie beide arbeiteten. Als der russische Angriffskrieg begann, floh sie von Kyjiw nach Berlin. Sie arbeitet dort als Sozialpädagogin in einer Jugendeinrichtung und kämpft für die Freilassung ihres Mannes.

„Das Leben unter Besatzung ist ein großes Gefängnis, man hat dort keine Freiheit“, sagt die 33-Jährige. Das wisse sie von den Bekannten und Verwandten, auch wenn sie manchmal zwischen den Zeilen lesen muss, weil diese sich nicht frei äußern könnten. Eine Rückkehr habe sie nie in Erwägung gezogen. Zinovkina, eine schmale, sportlich aussehende Frau, spricht fast fließend Deutsch. Während sie erzählt, sieht man manchmal ihre Augen hinter den Brillengläsern leicht glänzen. Es scheint, als kämpfe sie mit den Tränen. Auch, als sie über ihre Mutter spricht. Die ist 2022 zunächst im besetzten Melitopol geblieben. „Sie wollte ihr Haus und ihre Umgebung nicht verlassen. Ich wollte, dass sie nach Berlin kommt. Aber sie konnte sich nicht dazu durchringen.“

Bei ihrer Mutter, die vor einigen Jahren schon eine Brustkrebs-Erkrankung überstanden hatte, seien im Frühjahr 2025 wieder Metastasen gefunden worden, so Zinovkina. Sie sei im Krankenhaus Melitopol behandelt worden, dort habe man kurz darauf festgestellt, dass der Krebs gestreut hat. Trotzdem sei sie von den Ärzten nach Hause geschickt worden, es gebe in Melitopol derzeit nur einen einzigen Onkologen. Mithilfe mutiger russischer Bürger sei es gelungen, ihre Mutter über die belarussisch-polnische Grenze – wo die Töchter sie abholten – nach Berlin zu holen und in die Charité zu bringen. Aber es war zu spät für ihre Mutter, Anfang Juli verstarb sie.

Das Elternhaus in Melitopol, in dem die Mutter zuletzt allein lebte, steht nun leer. Zinovkina glaubt nicht an eine Rückkehr. „Wahrscheinlich werde ich Melitopol nie wiedersehen. Ich bin so wütend. Wie kann es sein, dass meine Heimatstadt jetzt einfach in einem anderen Land ist?“, sagt sie. „Die Welt entscheidet darüber, dass das nun Russland ist.“

Ihre Mutter hat ihr ein Foto aus ihrer Kindheit nach Berlin mitgebracht. „Das ist das einzige, was ich noch von meinem alten Leben habe“, sagt sie und holt das Foto aus einer Mappe. Darauf zu sehen ist ein Mädchen im Schulalter, in bunter Kleidung, lächelnd. Jens Uthoff

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