Nukleare Sicherheit in der Ukraine: IAEA schickt Mission in AKWs
Die Atomaufsichtsbehörde entsendet Expert:innen in drei von der Ukraine kontrollierte Kernkraftwerke. Das Ziel: Sicherheit garantieren.
„Wir sind hier, um die nukleare Sicherheit während des laufenden Konflikts zu gewährleisten“, schreibt Rafael Grossi, Generaldirektor der Internationalen Atomernergieagentur (IAEA), auf Twitter. Die Behörde werde „bald eine ständige Präsenz in allen ukrainischen Atomkraftwerken haben“, so Grossi, als er am 16. Januar in der Ukraine eintraf.
Ständige Vertretungen der internationalen Agentur werden also in jedem der drei in Betrieb befindlichen und von der Ukraine kontrollierten Atomkraftwerke – Riwne, Chmelnyzky und Piwdennoukrainsk – sowie im Atomkraftwerk Tschernobyl stationiert sein.
Im Laufe der Woche besuchte Rafael Grossi persönlich jedes dieser Kraftwerke und stellte die Mitglieder der ständigen Mission vor. In jedem Kraftwerk werden zwei Expert*innen für nukleare Sicherheit und Gefahrenabwehr der Agentur stationiert sein. Ihr Hauptziel ist die kontinuierliche Überwachung und Kontrolle der nuklearen und Strahlungssicherheit der Kraftwerke.
Die Mitglieder der Mission sind verpflichtet, jegliche Bedrohung durch Angriffe zu melden und sich mit der Agentur über die Bedürfnisse der Kraftwerke abzustimmen, um deren sicheren Betrieb zu gewährleisten. Nach Grossis Aussagen werden bis zum Ende des Krieges und noch einige Zeit danach ständige Missionen in den ukrainischen Atomkraftwerken bleiben, um alles zu reparieren, was beschädigt wurde.
Drohnen und Raketen
Die Initiative zum Einsatz solcher Missionen in der Ukraine geht auf Präsident Wolodimir Selenski zurück. Er hat sie im letzten Herbst ins Leben gerufen, nachdem die Energieanlagen der Ukraine unter russischen Beschuss geraten waren. Im AKW von Saporischschja etwa kam es zu einem schweren Unfall – alle Kernkraftwerke wurden abgeschaltet. Sie liefen mit Reservestrom. Die Ukraine hofft, dass die ständige Präsenz eines IAEA-Mitglieds die Atomkraftwerke vor russischen Angriffen schützen kann.
„Wir haben diese Provokationen erlebt. Das waren Raketenüberflüge in unsicherer Nähe zu all unseren Einrichtungen, darunter auch Atomreaktoren. Dazu gehörte eine Shahed-Drohne direkt über dem Kernkraftwerk in Piwdennoukrainsk und eine Rakete, die 300 Meter vom Kraftwerk entfernt auf den Boden fiel“, erklärt Petro Kotin, Präsident von Energoatom. Seiner Meinung nach wird die Präsenz der IAEA Russland von weiteren derartigen Aktionen abhalten.
Pawlo Kowtonjuk, Generaldirektor des AKW Riwne, teilt die gleichen Erwartungen. „Ich hoffe, dass der Aggressor dadurch daran gehindert wird, die Sicherheit und den physischen Schutz des Kraftwerks zu stören. Die Expert*innen werden auch sehen, wie unser Personal und unsere Geräte bei möglichen Angriffen auf die Energieinfrastruktur arbeiten“, sagte Kowtonjuk, nachdem die IAEA-Mission in seinem Atomkraftwerk stationiert wurde.
Ein weiterer Faktor für die Stationierung von IAEA-Missionen in ukrainischen Atomkraftwerken ist nach Ansicht von Expert*innen, dass sie auf diese Weise vor einer möglichen russischen Besetzung geschützt werden sollen. In erster Linie handelt es sich dabei um die Atomkraftwerke Riwne und Chmelnizky, die in der Nähe der ukrainischen Nordgrenze liegen und im Falle eines erneuten Angriffs von belarussischem Territorium aus zu vorrangigen Zielen für die russische Armee werden könnten.
Aus Fehlern gelernt
Die ukrainischen Sicherheitskräfte führen regelmäßig Übungen zum Schutz dieser Atomkraftwerke durch und versichern, dass sie aus den Fehlern, die während der Besetzung von Tschernobyl im Frühjahr und der laufenden Besetzung des Atomkraftwerks Saporischschja gemacht wurden, gelernt haben.
Bei der Vorstellung der Mission im Atomkraftwerk Tschernobyl drückte Rafael Grossi die Hoffnung aus, dass das Kraftwerk nicht mehr besetzt und nicht mehr Ziel neuer Angriffe sein werde. „Mit der Platzierung einer Mission machen wir einen konkreten Schritt in diese Richtung. Es ist sehr wichtig zu sehen, dass das AKW Tschernobyl ein Jahr nach der Besetzung wieder normal funktioniert und der größte Teil seiner Funktionalität wiederhergestellt und normalisiert wurde“, sagte er und fügte hinzu, dass die Präsenz der IAEA im Atomkraftwerk auch eine gute Möglichkeit sei, die internationale Gemeinschaft über alle Entwicklungen zu informieren.
Besonders schwierig ist die Situation jedoch im Atomkraftwerk Saporischschja. Seit dem 3. März 2022 steht sie unter russischer Militärkontrolle. Seither ist das Kraftwerk immer wieder unter Beschuss geraten und es drohte eine nukleare Katastrophe. Im September hatte die IAEA Mühe, ihre erste Mission dorthin zu entsenden. Im Moment ist das Kraftwerk nicht in Betrieb, sondern erhält nur Energie von ukrainischer Seite, um die Reaktoren am Laufen zu halten.
In Bezug auf die von der Ukraine geforderte Entmilitarisierung der Zone um das Kraftwerk weist Grossi auf die Komplexität des Verhandlungsprozesses hin: „Ein Atomkrieg oder ein nuklearer Unfall mit radiologischen Folgen ist in niemandes Interesse. Aber jetzt herrscht Krieg, und die Ziele und Ansichten der verschiedenen Seiten sind unterschiedlich.“ Es wird erwartet, dass der Generaldirektor der IAEA in Kürze nach Moskau reisen wird, um den Verhandlungsprozess mit der russischen Seite fortzusetzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen