: Nouvelle Vague als Singspiel
■ Neu im Kino: “Haut bas fragile“ von Jacques Rivette
Drei Mädchen stromern durchs sommerliche Paris: Louise ist reich und leidet unter Höhenangst, Ninon ist heruntergekommen und kriminell, Ida ist unsicher und auf der diffusen Suche nach ihrer nie gekannten Mutter.
„Oben – unten – zerbrechlich“ steht in Frankreich auf den Kisten mit feinen Möbeln, Glas oder Porzellan. Bei Jacques Rivette bezeichnet dieser Filmtitel elegant zugleich Inhalt (die Geschichten der drei Mädchen) und Stil (feinsinnig, verspielt, flüchtig). Der deutsche Filmtitel „Vorsicht: Zerbrechlich !“ ist dagegen schon viel zu eindeutig, und eine synchronisierte Fassung hätte Rivettes leichten Zauber sicher schon in einen Scherbenhaufen verwandelt. Denn dieser Film ist schwer zu fassen: Er erzählt nur in Ansätzen, hat einen eher zufälligen als zielgerichteten Blick, ist an Details und Stimmungen mehr interessiert als an Spannungsbögen oder Psychologie.
Dies ist ein Film für Flaneure und Tänzer. Man merkt schnell, ob einem Rivettes Schrittempo liegt, und wenn man sich nach den ersten paar Straßenzügen noch nicht langweilt, spaziert man auch gerne weiter die immerhin 169 Minuten des Films mit ihm durch das verträumte, sonnige Paris. Und immer wenn eine der Geschichten droht, zu dramatisch, ernst oder traurig zu werden, beginnen die Akteure zu singen und zu tanzen. Aus dem Nichts schwillt Musik an, und die bisher halbwegs realistisch gezeigten Schauspieler sind plötzlich in einer genau choreographierten, (und fast ohne Schnitte gedrehten) Shownummer, zu der sie Chansons im Duett singen und zum Teil akrobatische Tanzschritte ausführen. Bei Rivettes freiem Kino kann die Nouvelle Vague auch ins Singspiel führen.
Die sehr französisch kulinarische Musik zwischen Schlager, Tango, Samba und Jazz durchzieht auch die drei Geschichten des Films: Ida kommt auf die Spur ihrer verschwundenen Mutter durch eine zufällig gehörte Melodie, die sie glaubt, schon vor ihrer Geburt im Mutterleib gehört zu haben. Louise und Ninon treffen sich in einer Discothek und umtanzen dort den gleichen Mann. Es gibt auch eine Fülle von literarischen Anspielungen, etwa auf Robert Louis Stevensons Erzählung vom Selbstmörderclub.
Aber diese Zitate und Bezüge wirken nicht wie bildungbürgerlicher Ballast sondern wie übermütig geworfene Spielbälle. Wer mag, kann „Haut bas fragile“ auch als intellektuelles Ratespiel ansehen: Rivette läßt so viel Freiraum in seinem Film, daß jeder sich seinen eigenen Reim darauf machen kann.
Wilfried Hippen
Tägl. bis Dienstag um jeweils 19.30 Uhr im Kino 46
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