Notstand bei Organspenden: Auf der Warteliste
Nur eine neue Niere kann sie retten: Seit Jahren wartet Bärbel Dittmann auf ein Spenderorgan. Ob sie bis zur Operation überlebt, weiß sie nicht.
A n dem Montagmorgen, der ihr Leben für immer verändern wird, verlässt Bärbel Dittmann das Haus wie gewohnt um sechs Uhr. Sie fährt auf die Stadtautobahn in Berlin, dann durch den Britzer Tunnel, Ausfahrt Siemensdamm. Im Berliner Stadtteil Spandau stellt sie das Auto ab, da verkauft sie Toiletten, Waschbecken und Rohre in einem Lager für Sanitäranlagen. Das Frühstück hat sie an diesem Morgen ausgelassen, keinen Bissen hätte sie runterbekommen, nachdem sie das ganze Wochenende über gebrochen hat. Und wie sehr ihr der Rücken schmerzt, das weiß sie noch heute: „Ein stechender Schmerz, fast unerträglich, so als ob dir jemand tausend Messer in die Seite rammt.“
Zwei Stunden läuft sie gekrümmt durch die Lagerhalle, „wie ein Klappmesser in Winkelstellung“. Dann denkt sie: Geht nicht mehr, du musst zum Arzt. Haben Sie irgendwelche Krankheiten, fragt er. Nein, sagt sie. Er tastet sie ab, und als seine Hände ihren Bauch berühren, schreit sie auf vor Schmerz. Der Arzt nimmt sie mit ins Nebenzimmer, da legt sie sich auf die Liege für den Ultraschall.
Zystennieren, Sie haben Zystennieren, sagt er dann, und während sie denkt, was ist das überhaupt, holt er die Belegschaft ins Zimmer, denn Zystennieren hatten sie noch nie in der Praxis. „Die waren ganz begeistert. Ich hatte nachher zehn Leute um mich herum, ich wusste gar nicht, was los ist“, sagt Bärbel Dittmann. Sie lässt sich krankschreiben, fährt nach Hause und setzt sich an den Computer.
Im Internet liest sie, dass Zystennieren den Körper nicht richtig entgiften können, dass sie krankhaft anwachsen. Dass kleine flüssigkeitsgefüllte Bläschen daran schuld sind, die sogenannten Zysten. Dass die Betroffenen viel zu viele davon haben, millionenfach. Dass die kranken Nieren fast immer irgendwann aufhören zu arbeiten und dann nur noch eine Organspende hilft. „Was ich da rausgefunden habe, fand ich gar nicht mehr witzig“, sagt Bärbel Dittmann. Aber die negativen Gedanken verdrängt sie erst einmal. Stattdessen fliegt sie einen Monat nach ihrer Diagnose nach Sri Lanka, Strandurlaub, den sagt sie doch nicht ab wegen der Krankheit. „Der Arzt hat das verboten. Aber ich bin hingeflogen, logisch.“
Am Anfang überwiegt der Trotz
Damals, zu Beginn ihres Leidens, ist sie noch trotzig, nimmt ihre Erkrankung auf die leichte Schulter. Sie arbeitet weiter in dem Lager in Berlin-Spandau, Vollzeit, zehn Jahre bis zu ihrer endgültigen Krankschreibung, und wenn es zu sehr wehtut, wirft sie eine Schmerztablette ein. Was soll schon passieren, denkt sie. Muss ich halt mit leben. Sie ist keine, die sich unter der Bettdecke verkriecht und nicht mehr hervorkommt. Das Warten bestimmt noch nicht ihr Leben.
Während Bärbel Dittmann von ihrer Diagnose im Frühjahr 2001 erzählt, sitzt sie in ihrem Wohnzimmer und isst Kalten Hund, so heißt der Schokoladenkuchen, den sie in Wurstscheibenform geschnitten hat. An den Wänden hängen Familienfotos und Gemälde in Holzrahmen, Landschaftsmalerei, von den Deckenlampen in ein warmes Licht getaucht. Draußen dämmert der Abend, im Garten wird es kalt und still. Still ist es hier sowieso meistens, die Einzigen, die Lärm machen, sind die Vögel. Vor fünf Jahren ist sie mit ihrem Mann hierhergezogen, in das Dorf Marienfließ mit 700 Einwohnern, auf halber Strecke zwischen Berlin und Hamburg. Vierhundert Kilo Birnen haben sie letztes Jahr geerntet, im eigenen Garten, aber da ging es ihr noch nicht so schlecht wie jetzt, wo sie so schwach ist, dass sie keine zwei Treppenstufen mehr steigen kann, ohne sich am Geländer hochzuziehen. „Mein Körper zerfällt“, sagt Bärbel Dittmann.
Nur eine neue Niere kann sie retten. Sie ist eine von achttausend nierenkranken Menschen, die in Deutschland auf ein Spenderorgan warten. Weitere zweitausend Patienten stehen auf Wartelisten für Lungen, Herzen, Bauchspeicheldrüsen, Lebern und Dünndärme. Für viele kommt die Hilfe zu spät. Im Durchschnitt sterben jeden Tag drei Menschen, weil sie das lebensrettende Organ nicht rechtzeitig erhalten. Oder weil sie in der Zwischenzeit so krank geworden sind, dass sie die anstrengende Operation nicht überstehen würden. Acht bis zehn Jahre warten die Patienten in der Regel auf ein Spenderorgan. Wer für den Eingriff zu krank ist, den streichen die Ärzte von der Warteliste. Davor hat Bärbel Dittmann Angst: dass es umsonst ist, das Warten.
An diesem Nachmittag steigt sie in ihren zitronengelben Seat und fährt ins Fitnessstudio, zwanzig Kilometer durch die weiten Felder. Draußen scheint die Sonne, Bärbel Dittmann zieht ihre Jacke aus. Ankunft um 15 Uhr, sie geht durch die Tür zur Rezeption. „Hallo, einmal Sport bitte.“ Die Empfangsdame drückt ihr den vierten Stempel auf die Zehnerkarte. Einmal in der Woche versucht sie herzukommen.
Ein Abo hat sie nicht, das würde sich nicht lohnen, sagt sie. Manchmal geht es ihr so schlecht, dass sie einen Monat lang Pause machen muss. Mit der Zehnerkarte ist sie flexibel. Sie zieht sich um und geht in den Trainingsbereich, vorbei an einem Plakat mit dem Spruch „Aktivier deine Wunschfigur“. Um die Wunschfigur geht es ihr nicht, sie will wieder zu Kräften kommen, denn wenn das Telefon schellt und die Niere da ist, will sie fit sein. „Wenn du vor der OP gesund bist, dann erholst du dich nachher wieder schneller“, sagt sie. Mit Sport gegen die Krankheit anzukämpfen, gegen die Müdigkeit und Schwere in den Armen und Beinen, das ist eine ihrer Strategien, mit den Zystennieren umzugehen.
„Zehn Kalorien hab ich schon verbrannt“, ruft sie und lacht. Bärbel Dittmann sitzt mit weißen Sportschuhen auf einem Fahrradsimulator und strampelt. Den Widerstand hat sie auf die niedrigste Stufe eingestellt, sie hat kaum Kraft. Zwei Liter Wasser schleppt sie in den Beinen mit sich rum, weil ihre Niere den Wasserhaushalt nicht regulieren kann. „Ich sehe aus wie ein Michelin-Männchen.“ Sie hat nur noch eine Niere, die linke. Die rechte haben ihr die Ärzte vor sechs Jahren herausgenommen. Sie war es, die ihr die meisten Schmerzen bereitet hatte.
Schon ihr Vater hatte Zystennieren, auch ihre Großmutter. Das hat sie aber erst nach der Diagnose erfahren, von ihrer Mutter. „Früher hat man eben nicht drüber gesprochen, das war ein Familiengeheimnis“, sagt Bärbel Dittmann. Ihre Großmutter ist mit 42 gestorben, ihr Vater mit 38. Sie ist jetzt 62 Jahre alt und lebt immer noch. „Ich halte den Rekord in der Familie.“ Da ist es wieder, dieses Lachen, laut und durchdringend, wenn sie über ihre Krankheitsgeschichte spricht. Tut sie das, um sich selbst Mut zu machen? Aus Verlegenheit, aus Trotz? Oder weil sie das Leben einfach nicht so schwernimmt?
Seit fünfeinhalb Jahren steht sie jetzt auf der Warteliste für ein Spenderorgan. Erst wenn ein Nierenpatient so krank ist, dass er seinen Körper mit einer Blutwäsche entgiften muss, kommt er auf die Warteliste. Eigentlich wollte ihr Mann ihr seine Niere spenden, 2014 war das. Zusammen mit einer Freundin hat er sie überredet. Sie wollte erst nicht, dass er sich einem solchen Risiko aussetzt. „Wenn bei der Operation was passiert wäre, hätte ich nicht weiterleben können“, sagt Bärbel Dittmann.
Aber sie ließ sich überzeugen, in langen Gesprächen. Die Ärzte führen alle Tests durch, ihre Blutgruppen passen zusammen, A positiv, aber fünf Wochen vor dem Operationstermin hat ihr Mann einen Herzinfarkt. Da ist sie gerade im Krankenhaus. Abends ruft sie ihren Nachbarn an, weil ihr Mann den ganzen Tag nicht ans Telefon gegangen ist. Der Nachbar sagt, dass ihr Mann zusammengebrochen ist auf der Terrasse und dass die Rettungssanitäter auf dem Weg in die Klinik zwischenlanden mussten, um ihn zu reanimieren.
Am nächsten Morgen fährt sie zu ihm, von Krankenhaus zu Krankenhaus, rammt auf der Strecke noch eine Absperrung, so durch den Wind ist sie. Ihr Mann liegt im künstlichen Koma. Als ein Arzt ihr sagt, das mit der Spende wird nichts, denkt sie nicht an die Niere, sie denkt an ihren Mann. Er überlebt, aber er hadert bis heute. Fragt sich oft, wie es gelaufen wäre ohne Herzinfarkt. Bärbel Dittmann sieht das anders. „Es sollte eben nicht sein“, sagt sie.
Wie fühlt sich das an auf der Warteliste, wie ist das, wenn einem die Zeit davonrennt? Bärbel Dittmann zuckt mit den Schultern. „Das ist kein besonderes Gefühl.“ Sie sagt das so, als sei nichts dabei. Die Frau, die gegen Zystennieren kämpft, redet manchmal über ihre Erkrankung wie andere über eine Grippe. Natürlich würde sie sich, so sagt sie das, „unheimlich freuen“, wenn es klappt mit dem Spenderorgan. Bis dahin bleibt sie auf der Warteliste.
Dialyse viermal täglich
18.40 Uhr, der Handywecker klingelt, Zeit für die nächste Dialyse. Bärbel Dittmann geht ins Gästezimmer und setzt sich auf ein olivgrünes Bett mit bunten Kissen. Früher hat sie die Dialyse oben gemacht, im Schlafzimmer, aber unterm Dach wurde es ihr im Sommer zu heiß. Deshalb sitzt sie jetzt hier. In der Ecke neben der Tür stapeln sich 27 Kartons mit Infusionsbeuteln. „Die kommen immer mit der Post“, sagt sie, greift sich einen Beutel und hängt ihn an den Metallständer vor dem Bett. Dann desinfiziert sie ihre Hände und die Schläuche, die am Ständer herunterbaumeln. Sie macht das mit einer Routine, mit der andere Menschen ihr Frühstücksei kochen.
Zuerst lässt sie die alte Infusionsflüssigkeit aus dem Bauch fließen. Durch einen Katheter, den die Ärzte ihr eingesetzt haben, tropft die Lösung in einen leeren Beutel, gelb wie Urin, die Farbe kommt von den Abfallstoffen. Nach zwanzig Minuten steckt Bärbel Dittmann den Schlauch um und leitet die neue Infusionsflüssigkeit in ihren Bauch. Es dauert sieben Minuten, dann ist der Beutel leer und die durchsichtige Lösung in ihrem Körper. Viermal pro Tag macht sie das. So will sie die Zeit bis zur Transplantation überstehen.
Die Flüssigkeit entgiftet den Körper, weil die Niere das kaum mehr leisten kann. Die meisten Patienten gehen dafür in ein Dialysezentrum, Bärbel Dittmann bleibt zu Hause. „Man findet immer einen Weg“, sagt sie. Die Dialyse macht sie auch, wenn sie unterwegs ist. Sie war schon mit ihrem Mann in Schweden, im Wohnwagen. „Den Galgen haben wir zwischen Fahrersitz und Beifahrersitz eingeklemmt.“ Galgen, so nennt sie ihren Infusionsständer.
Man sieht es Bärbel Dittmann nicht an, so viel lacht sie, aber es gibt Momente, in denen sie verzweifelt. Dann geht sie zu ihrem Mann und er hört sich ihren Frust an. Wenn sie den Haushalt mal wieder nicht machen kann, weil alles zu anstrengend ist. Wenn sie auf den Feldweg schaut, auf dem sie mit ihm immer gejoggt ist, vom Nachbarshaus bis zum Wald, einen Kilometer hin, einen zurück. Wenn sie sich an die Motorradtouren erinnert, die sie jetzt nicht mehr machen kann, ins Erzgebirge, nach Brandenburg und Thüringen.
An die Tage, an denen sie morgens keine neun Tabletten einwerfen musste. Jetzt ist das anders. Nach dem Aufstehen geht sie ins Bad, zum Medikamentenschrank, oberstes Fach, Aufschrift „Tabletten – Bärbel“. Ein paar helfen gegen den Bluthochdruck, eine stärkt die Knochensubstanz, eine senkt den Phosphatspiegel im Blut. Hängt alles mit ihren Nierenproblemen zusammen. „Entweder du machst das mit oder du lässt es bleiben.“ Neben dem Kämpfen und Lachen ist das ihre dritte Strategie: der Pragmatismus.
Wie lange sie noch durchhalten muss, wie lange es noch dauert, das Warten, das weiß sie nicht. Vor Kurzem hat sie ihren Arzt gefragt, auf welchem Wartelistenplatz sie steht. Können wir Ihnen nicht sagen, das regelt der Computer, hat er geantwortet. Für jedes verfügbare Spenderorgan erstellt ein Algorithmus eine eigene Warteliste. Kinder bekommen einen Bonus, außerdem rücken Patienten nach vorne, die schon lange warten. „Mittlerweile müsste ich ziemlich weit oben sein“, sagt Bärbel Dittmann.
In den letzten zwei Jahren hat sie gemerkt, wie sie immer schwächer wurde, wie sie nur noch kurze Strecken gehen kann. Der Trotz, die Leichtigkeit, mit der sie kurz nach der Diagnose in den Urlaub geflogen ist, sind kleiner geworden. „Jahrelang habe ich gesagt: Ich lebe mit der Krankheit, sie nicht mit mir. Das sage ich jetzt nicht mehr.“
Sie gibt alles dafür, nicht in Selbstmitleid zu versinken, will nicht, dass die Krankheit ihr Leben bestimmt, aber das tut sie längst. Manchmal denkt sie daran, was sie nach der Organspende machen will, mit einer neuen Niere im Bauch. Reisen zum Beispiel. Nach Las Vegas, nicht wegen der Casinos, sondern zu den Shows und Musicals. Und nach Vietnam will sie, mit dem Rucksack durchs Land. Das wäre was, ganz ohne Infusionsständer und Dialyseflüssigkeit. „Ich bin doch erst 62“, sagt Bärbel Dittmann. „Ein bisschen leben will ich schon noch.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“