Notizen vom Jazzfest Berlin: Jazz lebt, obwohl die Welt in Flammen steht
Improvisation, Verfremdung und Kollektivität: Konventionelle Besetzung oder Solo-Auftritt; alte Themen und neue Thesen. Notizen vom Jazzfest Berlin.
„Where will you run when the world’s on fire?“ Unter diesem apokalyptischen Motto fand über Halloween und vergangenes Wochenende die 62. Ausgabe des Berliner Jazzfests statt. Den krisentauglichen Claim hatte sich die Festivalleitung unter Leitung von Nadine Deventer für 2025 von dem New Yorker Gitarristen Marc Ribot geliehen. Dieser hatte beim Festival einen denkwürdigen Auftritt. Ribot wiederum ließ sich für seine Version des besagten Lieds vom legendären US-Countryclan Carter Family inspirieren. Die erste Aufnahme ihres Songs „When the world’s on fire“ stammt allerdings aus einer anderen Krisenzeit – aus dem Jahre 1930, er wurde am Vorabend des Faschismus komponiert.
Die Kölner Saxofonistin Angelica Niescier, die am Donnerstagabend zur Eröffnung des Jazzfests auf der ehrwürdigen Bühne der Berliner Festspiele gastierte und genauso schnell Stakkato sprechen kann, wie sie ihr Instrument spielt, wollte in ihren Ansagen die vielen Krisen erst gar nicht weiter ausführen.
Lieber nutzte die 55-jährige Künstlerin ihre knapp bemessene Bühnenzeit, um sich eindrucksvoll durch alle erdenklichen Skalen zu hangeln. An ihrer Seite spielte Eliza Salem angenehm zurückgenommen Schlagzeug und die viel beschäftigte US-Cellistin Tomeka Reid bearbeitete ihr Instrument in den Bassregionen mit Fingern und Bogen und jagte ihre Signale dabei oftmals durch ein Effektgerät.
Verfremdungseffekte allenthalben
Generell ließ sich bei der Festivalausgabe 2025 beobachten, dass in fast allen Ensembles inzwischen Musiker:In mitwirken, die konventionellen Instrumentenklang durch Effektgeräte verfremden. Klar, das alles ist nicht neu, schon Miles Davis jagte Ende der 1960er seine Trompete durch ein WahWah-Pedal und schickte den „natürlichen“ Blechblassound einmal quer durch die Echokammer.
Aber die Selbstverständlichkeit, mit der Effektmodulationen im zeitgenössischen Jazz zur Anwendung kommen, ohne Puristen zu empören, darf als epochemachend verstanden werden. Nur dass es für diese neue Ära noch keinen Namen gibt. Hatten wir uns nicht längst darauf geeinigt, dass Jazz die Klassik des 21. Jahrhunderts ist? Als negative Antwort auf diese Frage genügte das Ensemble Deranged Particles des Berliner Bassisten Felix Henkelhausen. Das Septett spielte in DSL-Geschwindigkeit. Digitale Glitches wurden dabei zu ASMR-Suiten! Neue Musik und experimentelle Elektronik sind in diesen Jazz eingewoben.
Am Freitag erzählt der Chicagoer Drummer Makaya McCraven beim Auftritt seines Fusionquartetts, dass im Zentrum ihres Schaffens nach wie vor die Improvisation stehe. Der Mensch sei nun mal ein improvisierendes Wesen. Sein Alltag sei durch unzählige improvisierte Tätigkeiten getaktet. Auf der aktuellen EP „Off The Record“ hören wir digital prozessierte Jamsessions, die seine Band am Ende als festgelegte Partituren auswendig lernt, um sie dann live zu reproduzieren – und doch entsteht in diesem Vorgang Raum für neue Improvisationen.
Außerdem lobte McCraven das Festival als soziale Skulptur und verglich die freudige Begegnungswelt im Berliner Bezirk Wilmersdorf mit der angeblichen virtuellen Konnektivität von Tiktok & Co. Und er war sich sicher, dass keine KI jemals so einen Groove wie seine Band hinbekommen wird. Schon gar nicht live! Herausragend war auf jeden Fall der Gitarrist seines Quartetts, Matt Gold, der an den cremigen Sound von Wes Montgomery erinnerte, ihn aber radikal weiterführt.
Erneuerungsgesten führen bei umsichtig kuratierten Festivals automatisch zu den Vertreter:Innen der Avantgarde, also zu jenen Musiker:innen, die weit vorne in der Jukebox der Ideen unterwegs waren – und es bis heute geblieben sind. So wie der Auftritt des US-Freejazz-Trompeters Wadada Leo Smith am Donnerstagabend, begleitet vom US-Pianisten Vijay Iyer. Ihr Duo führte uns zurück in die Glanzzeit der Chicagoer „Association For The Advancement of Creative Musicians“ (besser bekannt als AACM): Eine basisdemokratische Künstler-Vereinigung, gegründet im Chicago der mittleren 1960er Jahre. Dort hatte man sich früh Gedanken über neue Ideen des Zusammenspiels gemacht, von kollektiven Leitungsfunktionen bis zu alternativen Notationssytemen.
Diese Ideen haben Jazzmusiker:Innen in aller Welt längst verinnerlicht. Trotzdem wirkte das traumwandlerische Duo von Wadada-Smith und Iyer jenseits jeder Zeit äußerst inspirierend. Musik, aus einer unglaublichen Ruhe entstehend. Im besten Sinne transzendental, mit dem Ergebnis: Standing Ovations!
Aber nicht nur der ehrwürdige Theatersaal wurde bespielt, sondern auch in umliegenden Clubs wie A-Trane, Quasimodo und der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche fanden Konzerte statt. Außerdem gab es Workshops unter dem Motto „Jazzfest Community Week“ parallel im Stadtteil Moabit und im Martin-Gropius-Bau. Besonders stolz ist man dieses Jahr auf ein in Moabit entstandenes Jazz-Kunst-Filmprojekt, das die Festivalleitung bei der Berlinale einreichen möchte.
Große Ensembles aus Skandinavien
Während deutsche Kulturinstitutionen am permanenten Sparzwang laborieren, schickten die skandinavischen Länder in diesem Jahr fast ausschließlich große Ensembles nach Berlin. Von der dänischen Künstlerin Amalie Dahl und ihrer Bigband Dafnie bis zum schwedischen Fire Orchestra. Beneidenswert! So genannte Large Ensembles aus Deutschland schaffen es dieser Tage oft nicht einmal zum Konzert in die Nachbarstadt.
Der britische Jazzpianist Pat Thomas hingegen spielte am Sonntagabend ganz allein im großen Saal. Sein Solokonzert am Flügel erinnerte daran, dass Ragtime und Zwölftonmusik der Wiener Schule einst zur gleichen Zeit an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden sind. Einer Zeit, in der jeder Haushalt, der etwas auf sich hielt, ein Klavier im Wohnzimmer stehen hatte.
Zurück zur Eingangsfrage und einer krisenhaften, in Flammen stehenden Welt, die während des Festivals leider unbeantwortet blieb. Umso heilsamer war es, am Sonntagabend zum krönenden Abschluss ins Quasimodo zu flüchten, wo das James Brandon Lewis Quartett konzertierte.
Der US-Tenorsaxofonist und seine mit Bass, Schlagzeug und Klavier an sich konventionell besetzte Combo, ließen keinerlei Zweifel daran, dass der altbekannte Modern-Jazz-Sound für alle Ewigkeit bestimmt ist. Und daran, dass Jazz unbedingt in kleinere Clubs gehört – und nicht ins Staatstheater. Gegen die schleichende Musealisierung auf der großen Bühne hilft nämlich leider auch kein Effektgerät.
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