Norbert Scheuers Roman „Winterbienen“: Summende Rettung

Mit „Winterbienen“ setzt Scheuer seine Eifel-Chronik fort. Ein Erinnerungsroman über die Schlussphase des Zweiten Weltkriegs in der deutschen Provinz.

Eine Biene sitzt auf einem blau lakierten Holzbrett

Die Effizienz eines Bienenstaates lässt sich nicht auf die menschliche Gesellschaft übertragen Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Am Anfang steht eine undatierte Tagebucheintragung, geschrieben von Egidius Arimond, der in einem Eifeler Bergarbeiterstädtchen wohnt und der die Landschaft seiner Heimat durchaus nüchtern beschreibt, nämlich als eine „Gegend mit kleinen Dörfern inmitten von Magerwiesen, Fichten-, Kiefern- und Buchwäldern, die sich bis zur belgischen Grenze erstrecken“, eine „karge Region“ mit einer aber „üppigen Vegetation, die die Bienen offenbar sehr lieben“. Was so harmlos beginnt, wird sich allerdings zu einer berührenden und vielschichtigen Romangeschichte entwickeln, deren Bilderwelt schon in den ersten Sätzen angelegt ist.

Norbert Scheuer, der mit „Winterbienen“ seine literarische Chronik rund um die Eifelortschaft Kall fortsetzt, erzählt von einem unter Epilepsie leidenden Lehrer und Bienenzüchter in den letzten Kriegsmonaten, beginnend im kalten Januar 1944. Die Nazis haben Egidius aus dem Schuldienst entlassen, und so lebt er von Honigverkauf und den Pflanzen in seinem Garten.

Außerdem engagiert er sich als erfindungsreicher Fluchthelfer. In umgebauten Bienenkästen transportiert er Juden an die belgische Grenze, auf dass sie in dem besetzten Land untertauchen können. Wenn das Fuhrwerk, das durch die einsamen und zerklüfteten Eifellandschaften zieht, doch mal von Feldjägern oder der Polizei kontrolliert wird, hilft eine außergewöhnliche Tarnmethode. So muss ein ohnehin von der Flucht schon eingeschüchtertes Mädchen noch einmal großen Mut aufbringen, um sich nicht zu verraten. Denn Egidius hat Lockenwickler an der Kleidung festgemacht, in denen jeweils eine Bienenkönigin sitzt.

Im Notfall werden die in separaten Boxen mitgeführten Untertanen freigelassen, was zu einem unvorstellbaren Effekt führt: „Die Bienen flogen auf der Suche nach ihrer Königin in den Kasten, in dem die Kleine hockte. Sie hatten sie bald umhüllt und so unsichtbar gemacht.“ Das rettet dem Mädchen und auch dem Wagenlenker das Leben. Denn Fluchthelfer und Flüchtlinge werden von den verbliebenen Schergen des untergehenden Nazireichs sofort exekutiert.

Egidius ist nicht einfach nur ein Held. Er geht das Risiko auch ein, weil er Geld braucht, um sich neue Medikamente zu kaufen. Dass er überhaupt noch lebt und nicht als erbkranker Volksschädling deportiert wurde, hat er wahrscheinlich seinem Bruder Alfons zu verdanken, der sich im NS-System einige Freiheiten rausnehmen kann. Er gilt als besonders verwegener Bomberpilot und hat es mit zahlreichen Abschüssen sogar in die Wochenschau geschafft.

Überall lauert der Tod

Doch in den letzten Kriegsmonaten wird der Alltag für Egidius immer schwerer zu bewältigen. Der Kontakt zum Bruder wird spärlicher, und der Apotheker rückt keine Tabletten mehr heraus, mit denen der Epileptiker heftigen Anfällen mit ungewissem Ausgang vorbeugen kann. Außerdem greifen die Kampfflugzeuge der alliierten Truppen nun auch die Provinz an, nachdem die großen Städte in Deutschland weitgehend zerstört worden sind. Überall lauert der Tod.

Egidius setzt sich aber noch ganz anderen Gefahren aus, weil er mit verheirateten Frauen Beziehungen eingeht, etwa mit der einsamen Maria, deren Mann an der einbrechenden Front wohl auch ums eigene Überleben kämpft. Allein diese Affäre führt zu Getuschel im Städtchen, was den sinnenfrohen Bienenfreund nicht davon abhält, sich in Charlotte zu verlieben, die Gattin des NSDAP-Kreisleiters, in dessen Ehebett er ebenfalls bald landet.

Dass der Erzähler hier selbst wie ein Liebes­bien­chen auftritt, das von einer Blütenschönheit zur nächsten zieht, gehört zur tieferen Ironie des Romans, in dem moralische Fragen weniger durch eine Grundsatzmoral und vielmehr auf sehr praktische Weise beantwortet werden: Wo die Sehnsucht herrscht, soll auch geliebt werden, Ehe hin, Kirche her.

Der Tagebuchautor verrät nicht alles, was er auf seinen Fluchtrouten und Liebesfluchten erlebt, aber was er niederschreibt, ist so bedrückend und abenteuerlich, dass er die Blätter gut in einem Bienenstock verstecken muss. Es entwickelt sich vor allem im letzten Drittel des Romans eine Rasanz, die man dem Buch zunächst nicht zugetraut hätte und die nicht mal zulasten der ausgewogenen Gesamtkonstruktion geht. „Winterbienen“ ist auf so subtile und kluge Weise komponiert, dass es sich lohnt, einzelne Tagebucheinträge nach dem ersten Durchgang noch einmal zu lesen.

Scheuers Prosa beeindruckt dabei auf sehr unterschiedlichen Sprachebenen: zum einen mit einer gewitzten und bildstarken Verschränkung der Natur- und Gesellschaftserzählung. In diesem Roman summt und brummt es auf jeder Seite, wobei die Töne des Textes mal bedrohlich und dann wieder sinnstiftend sein können. Ähnlich vielschichtig geht Scheuer mit Gerüchen um, mit dem Duft des Honigs und den sexuellen Lockstoffen, die auf Männer und Frauen gleichermaßen wirken.

Als wäre das alles nicht genug, spiegelt sich das innere Erleben des Protagonisten in den Berichten seines Vorfahren, eines Mönchs, der die Bienenzucht in die Familie gebracht hat und es sogar wagte, das Kloster für eine geliebte Frau zu verlassen.

Tagebuchform ist ein Glücksgriff

Norbert Scheuer bringt sich schließlich selbst in die Geschichte ein, indem er in einer Danksagung von einer merkwürdigen Begegnung in der Cafeteria eines Supermarktes berichtet: Ältere Herrschaften hätten dem Schriftsteller eine Aktentasche mit den Aufzeichnungen von Egidius Arimond übergeben, und zwar mit der Bemerkung, Scheuer solle doch „endlich mal etwas Gutes über Kall schreiben“. Eine solche Episode ist gut vorstellbar, gehört aber wohl zur Fiktion, in der sich Scheuer als eine Art Herausgeber der Tagebuchblätter ausgibt.

Die Tagebuchform erweist sich als Glücksgriff für diesen Roman, denn hier kämpft ein Erzähler mithilfe seiner schriftlich fixierten Gedanken gegen das eigene, krankheitsbedingte Vergessen und schafft dabei ein literarisches Mahnmal der Erinnerung, das weit über sich hinausweist, gerade weil die Differenz von eigener Erfahrung und textlicher Verarbeitung mitreflektiert wird: „Das, was ich notiere, ist nur eine Projektion meines Lebens, es ist weniger und doch gleichzeitig mehr, als ich selbst bin, wie auch die gesprochene Sprache immer mehr ist als ihre schriftliche Wiedergabe, die aber auf der anderen Seite doch vielleicht eine tiefere Wirklichkeit aufzeigt, ebenso wie eine Landkarte niemals die tatsächliche Landschaft selbst darzustellen vermag.“

Norbert Scheuer:„Winterbienen“, C. H. Beck Verlag, München 2019, 319 Seiten, 22 Euro

In solchen Überlegungen scheint nicht zuletzt auch Scheuers Poesie der behutsamen, dann aber auch deutlichen Zeitkritik auf, die nicht nur mit sprachlichen, sondern auch visuellen Mittel entfaltet wird.

In dem sorgfältig editierten Buch sind Zeichnungen von Flugzeugen samt Typenbezeichnung und Informationen über PS-Stärke, Bewaffnung und Bombenlast abgedruckt. Auf die Entfernung sehen diese todbringenden Maschinen herumfliegenden Bienen ein wenig ähnlich. Es gehört zu den stilsicher herausgearbeiteten Erkenntnissen dieses preiswürdigen Romans, dass Ähnlichkeiten nicht zu falschen Analogien führen sollten.

Die erschreckende und gleichsam notwendige Effizienz eines Bienenstaates lässt sich eben nicht auf die menschliche Gesellschaft übertragen. So ist Überleben eines Bienenvolkes nur gesichert, wenn sich jede Generation ihrem Schicksal fügt. Wenn die Winterbienen ihre Aufgabe erfüllt und in den kalten Monaten für die richtige Temperatur im Stock gesorgt haben, werden sie von den Sommerschwestern aus dem Bienenstaat geschmissen, auf dass die ohnehin geschwächten Tiere dann massenhaft sterben und von Vögeln gefressen werden.

Auch die Vermehrung endet im Bienenreich tödlich, die Königin jedenfalls kennt keine Gnade, wenn sie nach dem Dienst der Männchen zu einem Flug in milder Frühlingsluft abhebt: „Nach der Befruchtung befreit sie sich von ihren Gatten, entreißt ihnen dabei Geschlecht und Gedärme; in der milden Frühlingsluft schweben die leeren Hüllen zu Boden. Wenn die Königin zum Stock zurückkehrt, hängen noch die Eingeweide der letzten Freier an ihrem Hinterleib.“

So brutal das Naturgesetz, so perfekt die innere Ordnung im Bienenstaat. Nimmt der Mensch aber das Leben und Sterben im Tierreich zum Maßstab, um Politik zu machen, sind Chaos, Leid, Zerstörung und Selbstzerstörung die Folge. Das ist selbst einem Bienenfreund wie Egidius Arimond bewusst, der die emsigen Insekten für natürliche Verbündete hält, der aber auch froh ist, dass seine Geliebten nicht so gefährlich sind wie eine Bienenkönigin.

Norbert Scheuer hat eine gerade in ihrer Ambivalenz so überzeugende Romanfigur geschaffen, die man so schnell nicht wieder vergisst.

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