Noisepunk Benefits „Nails“: Dieser „Shite“ reinigt die Luft
England geht den Bach runter. Die Noisepunkband Benefits treibt derweil auf ihrem Debütalbum „Nails“ mit Krach den Frust aus.
Teesside im Nordosten Englands. Auf der High Street des kleinen Marktstädtchens Stockton-on-Tees wechseln sich leerstehende Geschäfte mit Ein-Pfund-Shops ab. Geschlossene Rollläden und „to let“-Schilder in den Schaufenstern zeigen Leerstand an. Früher sorgte in der Region eine florierende Schwerindustrie zumindest für Arbeit, heute wirkt der Ort wie so viele englische Kleinstädte seltsam aus der Zeit gefallen und sich selbst überlassen.
2016 stimmten hier über 60 Prozent für den EU-Austritt. In den traditionellen Labour-Wahlkreisen werden neuerdings die Konservativen gewählt. Eine Kulisse wie aus einem Ken-Loach-Film, so der erste Eindruck.
Biegt man aber von der High Street ab, grüßt die markante schwarz-weiße Hausfassade des Plattenladens „Sound It Out“. Dank eines Dokumentarfilms von Jeanie Finlay wurde er sogar international bekannt und steht als Symbol dafür, wie sich stationärer Einzelhandel gegen Internetriesen behauptet. Ein paar Straßen weiter das „Georgian Theatre“, ein Festsaal, erbaut 1766, einer der wichtigsten unabhängigen Konzertsäle im Nordosten.
Der Brexit und die Krise
„Wir sind hier nicht alle Royalisten und Tory-Parteimitglieder. Es ist wichtig, dass auch andere Stimmen im Land gehört werden“, sagt Kingsley Hall, Frontmann der Band Benefits, der alle Songtexte schreibt. Leute wie er werden hier manchmal als „Snowflake“ bezeichnet. Ein abwertender Begriff für Brit:Innen, die sich nicht mit der harten Post-Brexit-Realität abfinden wollen. Regierungskrise, Lebenshaltungskostenkrise, Grundnahrungsmittelkrise, NHS-Krise.
Den Frust über dieses Land im Dauerkrisenmodus verarbeitet Hall zu griffigen Songs. Sie tragen Titel wie „Empire“, „Flag“ und „Shit Britain“ und handeln vom Ekel über den wiedererstarkten Nationalismus, von sozialer Spaltung und einem Union Jack, der die gesellschaftlichen Risse überdecken soll. Dazu spielen Benefits einen Sound, der brachialer, hässlicher und lauter kaum sein könnte.
Mikrofone scheinen unter Halls angestauter Wut förmlich zu zerbersten, Drums und Synthesizer-Effekte rennen seinen Stream-of-Consciousness-Tiraden hinterher. Aggro-Punk mit Noise-Einschlag könnte man das nennen. Musik, zu der man sich beim Hören fast zwingen muss.
„Unser Sound ist bewusst roh und ungeschliffen, wir leben schließlich in rauen Zeiten. Die letzten Jahre waren in Großbritannien das reinste Chaos. Kein Platin-Thronjubiläum, kein pompöses Staatsbegräbnis, keine Krönungsfeier können davon ablenken und darüber hinwegtäuschen. Wir wollen dieses Chaos in unserer Musik widerspiegeln.“
„I fucking love Benefits.“
Für die Direktheit der Texte und die ungehobelte Musik werden Benefits von Kollegen gefeiert. US-Noisenik und Produzent Steve Albini schwärmt: „I fucking love Benefits.“ Twitter-Kudos gibt es auch vom Pixies-Sänger Black Francis und vom englischen Grantelrap-Duo Sleaford Mods. Geoff Barrow von Portishead ist sogar derart begeistert, dass er jetzt das Benefits-Debüt-Album „Nails“ auf seinem Label Invada Records veröffentlicht.
Benefits: „Nails“ (Invada/Cargo)
An die mediale Aufmerksamkeit muss sich Kingsley Hall erst noch gewöhnen. Eine seltsame Bandbreite an Emotionen sei das alles. Er fühle sich davon überwältigt, schreibt er auf Twitter. „Humble“, sagt man hier.
Angefangen hat alles Ende 2019, als sich Kingsley Hall mit den Brüdern Robbie und Hugh Major zusammentat. „Es gab eine Phase, da klangen wir wie eine Diätversion der Bristoler Band Idles. Irgendwann waren wir vor einer Probe so genervt, dass wir unser Equipment gar nicht erst aus dem Auto geholt haben und nur darüber diskutierten, wer wir als Band eigentlich sein wollen.“
Während des Covid-Lockdowns feilten Benefits an ihrem Konzept und schickten sich Soundschnipsel hin und her, auf diese Fragmente schrieb Hall seine Texte. Dazu drehte er düstere Musikvideos, in denen er an menschenleeren Orten in seiner Heimat Teesside direkt in die Kamera schreit. Nach dem Lockdown spielten Benefits ihre ersten Konzerte in kleinen Indieclubs von Hackney bis Hebden Bridge.
Konzert im „Trades Club“
Im „Trades Club“, einem ehemaligen Arbeitertreff in West Yorkshire, bekommt für 25 Pfund eine Mitgliedschaft, wer das sozialistische Vereinsmanifest unterschreibt. Eine Fotowand verrät, dass hier schon jede wichtige britische Band irgendwann live gespielt hat. Als Hall die Bühne betritt, entschuldigt er sich für seine Nervosität. Alle Schüchternheit ist wie weggeblasen, als Drummer Dale Frost loslegt und den pumpenden Herzschlag zu Halls Spoken-Word-Rants liefert.
Die Bühne ist kaum höher als das Publikum, aber Hall wirkt wie ein Gigant und wächst mit jedem Song über sich hinaus. Ein manischer Punk-Prediger, ein getriebener Noise-Intellektueller. Dazu prasselt eine Kakophonie an Beats, und beklemmendes elektronisches Feedback bringt den Saal zum Beben. Eine musikalische Dystopie. „Formulate your own ideas / Don’t get bullied by hate speech / Ignore cartoon fascists/ Reject hate / Don’t fall into apathy“, schreit Hall.
Seine Songtexte sind Abrechnung, Manifest und Pep Talk in einem. Und Selbsttherapie. „Für mich ist das einfach eine Art, die Kontrolle zu behalten. Man muss wachsam und wütend bleiben. Das Texten hilft mir dabei, nicht abzustumpfen.“
Als Benefits nach einer guten Stunde von der Bühne gehen, wirkt es, als sei die Luft im Raum gereinigt. Als tropfte sämtlicher Frust mit Schweiß und Bierdunst von der niedrigen Clubdecke. Das fast ausschließlich männliche Publikum liegt sich berauscht und dankbar in den Armen. „Kathartisch!“, sagt einer. Man sei gerade Zeuge einer neuen Punk-Geschichtsschreibung geworden, mindestens.
„Lefty Woke Shite“
Selfies werden gemacht, Hall signiert Tourposter und wird am Merch-Stand herzlich an schwitzige Bäuche gedrückt. Dort verkauft die Band neuerdings T-Shirts mit dem selbstironischen Slogan „Lefty Woke Shite“, also linksversiffter woker Scheiß.
„Wenn ich mir die britische Musikszene und die Kulturbranche anschaue, frage ich mich ernsthaft, wieso nur so wenige reflektieren, was hier gerade passiert. Das Land geht den Bach runter, und es scheint kaum jemanden zu interessieren. Wir versuchen, den Soundtrack zu diesen schwierigen Zeiten zu komponieren. Aber vielleicht transportieren wir auch ein kleines Stück Hoffnung.“ Hoffnung auf bessere Zeiten, irgendwann müssen sie schließlich kommen.
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