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Noch nicht im Raster

Die ersten Lebensjahre sind zentral für gute Bildungschancen. Bund und Länder wollen deshalb mehr verbindliche Sprachförderung. Doch reicht das? Denn ausgerechnet die Kinder, die davon am meisten profitieren könnten, finden oft keinen Kitaplatz

In Sprachkitas, wie hier in München, gelingt der Spracherwerb besonders gut Foto: Frank Hoermann/imago

Von Ralf Pauli

Diese Woche erlebt der deutsche Bildungsföderalismus ein Novum: Am Donnerstag, wenn sich Bundesministerin Karin Prien und die Präsidentin der Bildungsministerkonferenz (BMK) Simone Oldenburg im Schloss Bothmer an der Ostsee mit ihren Län­der­kol­le­g:in­nen treffen, sind die beiden wichtigsten Bildungspolitikerinnen im Land erstmals nicht nur für Schulen zuständig – sondern auch für Kitas.

Prien hat im Bundeskabinett ein Super-Ministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend übernommen. Die in diesem Jahr turnusmäßige BMK-Präsidentin Oldenburg ist in ihrer Heimat Mecklenburg-Vorpommern als Bildungsministerin ebenfalls für Kitas zuständig. In den meisten Ländern ist das – wie bis vor Kurzem im Bund – getrennt.

Die Christdemokratin Prien und die Linkenpolitikerin Oldenburg sind sich einig, dass die Bereiche besser bei ein und derselben Person aufgehoben sind. „Um Bildung von Anfang an entlang der Bildungsbiografie“ zu denken, wie Prien es kürzlich auf einer Veranstaltung zu Kita-Fachkräften formulierte. Auch bei der Frage, wo Bund und Länder dringend nachsteuern müssen, um Kindern mit schlechteren Startchancen künftig gerechter zu werden, scheinen Prien und Oldenburg ähnlich zu ticken.

So wollen beide die Übergänge von der Kita zur Grundschule stärken – und bereits in der Kita mit verbindlicher Sprachförderung beginnen. Prien kann sogar darauf hoffen, dass die Länder ihr das forsche Versprechen aus dem Koalitionsvertrag, einen bundesweiten Sprachtest für Kinder mit vier Jahren einzuführen, verzeihen. Schließlich entscheiden darüber: die Länder.

Aktuell testen nur Hamburg, Bremen und seit diesem Jahr auch Bayern alle Kinder im Vorschulalter auf ihre Deutschkenntnisse. In anderen Ländern sind die Sprachstandserhebungen bislang freiwillig, etwa in Hessen. Nordrhein-Westfalen hingegen testet nur Kinder, die mit vier nicht in die Kita gehen. Baden-Württemberg nur die, die bei den kinderärztlichen Untersuchungen sprachlich auffallen. Das Problem: Vielerorts fallen so Kinder, die eigentlich schon vor der Schule gezielte Förderung bräuchten, durchs Raster. Flächendeckend wird der Sprachstand meist erst zur Einschulung erhoben.

Deshalb planen oder erwägen mehrere Länder, einen verpflichtenden Sprachtest für alle Kinder mit vier Jahren samt entsprechenden Fördermaßnahmen einzuführen, darunter Sachsen-Anhalt, Thüringen, Sachsen oder Rheinland-Pfalz. „Frühe sprachliche Bildung ist der Schlüssel zu mehr Chancengleichheit“, begründet das der rheinland-pfälzische Bildungsminister Sven Teuber in der taz.

Der SPD-Politiker begrüßt den Vorschlag, bundesweit verbindliche Sprachstandserhebungen einzuführen, verweist aber auch auf andere hilfreiche Schritte. Etwa die vorgezogene Schulanmeldung, die Rheinland-Pfalz erstmals im Februar erprobt hat. Die Idee: Alle Kinder müssen bereits 1,5 Jahre vor der Einschulung gemeldet werden. Wer keine Kita besucht und Bedarf hat, bekommt Sprachförderung.

Wie dringend nötig solche Maßnahmen sind, zeigen die seit Jahren sinkenden Lese- und Sprechfähigkeiten an Grundschulen. Mittlerweile verfehlt jedes vierte Kind die Mindeststandards. Besonders schlecht schneiden Kinder ab, die zu Hause kein Deutsch sprechen, oder die aus einem Nichtakdemikerhaushalt kommen. Die jüngste Grundschulstudie Iglu hat nachgewiesen, dass diese Kinder im Vergleich zu ihren sozial privilegierten Mit­schü­le­r:in­nen in der vierten Klasse bereits einen Rückstand von je einem ganzen Schuljahr aufweisen.

Die Ministerien haben als erste Gegenmaßnahme im Jahr 2022 das Fach Deutsch an Grundschulen gestärkt und unter anderem die Lesezeit erhöht. Klar ist aber auch: Ohne Förderung im Vorschulalter dürften diese Maßnahmen eine begrenzte Wirkung haben. Neben verbindlichen Tests wollen aktuell mehrere Länder, etwa Sachsen, auch ein verpflichtendes Vorschuljahr einführen. Die Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) hat sogar eine dreijährige Vorschule ins Spiel gebracht.

Doch hier fangen die Konflikte an: Viele Kitas hadern mit der Rolle, die die Politik ihnen zugedacht hat. Sie sehen sich nicht als Erfüllungsgehilfen für funktionierende Schule. Das wurde Anfang dieser Woche auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung zu Sprachförderung an Kita und Schule deutlich.

Dort beschrieb der Geschäftsführer des Kitaträgers Fröbel, Stefan Spieker, dass Konzepte wie Vorschule, Sprachtests und zusätzliche Förderung in seinen 240 Einrichtungen auf große Skepsis stießen. „Kinder gezielt nach festgestellten Defiziten zu fördern, passt nicht zu dem ganzheitlichen Ansatz, den viele Kitas verfolgen“, sagte Spieker. Bei flächendeckenden Sprachtests und entsprechenden Fördermaßnahmen sieht er die Gefahr, dass Kinder schon früh „selektiert und diskriminiert“ würden.

Stattdessen plädiert Spieker dafür, genügend Ressourcen für eine alltagsintegrierte Sprachförderung zur Verfügung zu stellen. Dass die Bundesregierung das von der Ampel beerdigte Programm der „Sprachkitas“ wieder aufleben lassen möchte, begrüßt Spieker. Über das Programm waren bundesweit rund 7.000 Sprachfachkräfte beschäftigt worden.

Aus Sicht der Politik schließen sich alltagsintegrierte und gezielte Förderung nicht aus. Auch Bil­dungs­for­sche­r:in­nen verweisen auf Hamburg, das als erstes Land systematisch Sprachstände erhoben hat und damit große Erfolge erzielt. So hat sich der Stadtstaat in den letzten Jahren bei Vergleichsstudien in der vierten oder neunten Klasse nicht oder nur geringfügig verschlechtert, entgegen der meisten anderen Länder.

Doch auch, wenn sich Bund, Länder und die immerhin rund 60.000 überwiegend privaten Kitaträger darauf verständigen, wie Sprachförderung am besten aussieht, bleibt ein Problem ungelöst: die fehlenden Kitaplätze vor allem in Westdeutschland. Studien belegen, dass vor allem sozial benachteiligte Familien häufig das Nachsehen haben. Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) etwa wies nach, dass die Betreuungschancen für armutsgefährdete Kinder unter drei Jahren nur halb so groß sind wie für Kinder aus nicht prekären Verhältnissen. Auch gibt es in ärmeren Stadtvierteln oft weniger Kitaplätze, fand kürzlich das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) heraus.

Die Berliner Integrationsforscherin Seyran Bostancı spricht deshalb von „institutionellem Rassismus“. Schließlich seien Familien mit Zuwanderungsgeschichte häufig von Armut betroffen und kämen oft schwer an einen Kitaplatz. „Es reicht nicht aus, bei Eltern für einen Kitabesuch zu werben, wie es viele Po­li­ti­ke­r:in­nen aktuell tun“, sagt Bostancı der taz. Damit würde die Verantwortung auf diejenigen abgewälzt, die an den systemischen Hürden scheitern.

„Es reicht nicht aus, bei Eltern für einen Kitabesuch zu werben“

Seyran Bostancı, Forscherin

In ihren Studien konnte Bostancı beispielsweise herausarbeiten, dass institutionalisierte Aufnahmeprozesse wie intransparente Wartelisten in Berlin oder Ideen einer „vermeintlich guten Mischung“ dazu beitragen, dass migrantischen Kindern der Zugang zu einem Kitaplatz verwehrt werde, vor allem in Stadtteilen mit erhöhtem Migrationsanteil. Offenbar gingen Kitas davon aus, dass Kinder mit Migrationsgeschichte oder die Arbeit mit deren Eltern mehr Aufwand bedeuteten, so Bostancı. Aus ihrer Sicht wäre es wichtig, Fachkräfte für das Thema zu sensibilisieren und zu professionalisieren – und mehr Geld in die Bildungsqualität zu investieren.

Wie wichtig der Kitaplatz für die Sprachentwicklung ist, weiß auch Jutta von Maurice vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LifBi). Sie untersucht Bildungswege von Geflüchteten. Dabei hat sie herausgefunden: Wenn eine geflüchtete Familie für ihr vierjähriges Kind eine Kita findet, liegt die Chance auf Sprachförderung bei gut 30 Prozent. Bei den Kindern, die keine Kita besuchen, sind es nicht mal sieben Prozent. „Die Kindertageseinrichtung ist also hier der Schlüssel für den Zugang“, sagt von Maurice der taz.

Dass es für bestimmte Gruppen teils noch große Hürden gibt, ist den Ministerien bewusst. Sie versuchen, im Dialog mit den Kommunen gerechtere Zugänge zur Kita zu finden. Wie das konkret gelingen kann, wenn immer noch Tausende Plätze fehlen, ist unklar.

Immerhin beim Kita-Ausbau gibt es gute Nachrichten: Am Dienstag hat Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) grünes Licht für die geplanten Milliardeninvestitionen in Kitas gegeben. Im nächsten Jahr stehen 6,5 Milliarden Euro an Bundesgeldern zur Verfügung – mehr als dreimal so viel wie unter der Ampel. Karin Prien darf wohl mit einem warmen Empfang auf der Bildungsministerkonferenz rechnen.

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