Nite Jewel in Köln: Wie eine Platte mit Sprung
In der Kölner King Georg Bar beherrschte die Sängerin Nite Jewel ihr Publikum. Die Songs der jungen Amerikanerin sind eine Wiederholung mit Differenzen.
Wer die Kölner Bar King Georg betritt, lässt die Vergangenheit nicht hinter sich. Die rot gestrichene Holzvertäfelung, der Kronleuchter über der Tanzfläche, die Messingstangen und roten Sitzecken, deren abgegriffener Lederbezug nur noch von Klebeband zusammengehalten wird: Sie erinnern an die Vergangenheit des Hauses im typischen Kölner Kachellook.
Früher war es ein Laufhaus, in dem Prostituierte und Freier anbandelten, heute treffen sich an der Bar prekäre Intelligenz und junges Popbildungsbürgertum. Konzerte finden auf der gekachelten Tanzfläche statt und am Freitagabend hatte die Amerikanerin Nite Jewel dort ihre Synthesizer aufgebaut.
Seit gut vier Jahren gibt es das King Georg und in dieser Zeit ist es die Kölner Heimat einer ganz bestimmten Form von Indiepop geworden. Dieser bedient sich der Versprechen des technisch hochgezüchteten Charts-Pop der 1980er und verkleidet sie als Do-it-yourself-Projekt. Musiker wie der aus der Vancouver stammende Support-Act Nicholas Krgovich verkörpern diesen Stil perfekt. Und so beginnt er seinen Auftritt auch mit einer Coverversion von Sades „King of Sorrow“.
Mit zusammengefallenen Schultern sitzt er vor seinem Synthesizer, haucht seine Lyrics ins Mikrofon und reduziert die Ballade auf ihr Skelett: „I’m crying everyone’s tears“. Schließlich entgleitet ihm der Track sanft in die unteren Frequenzen. Es sind kleine Statements, geschrieben aus einer Position, die im Vergleich zur 60 Jahre andauernden Popgeschichte dann doch eher marginal ist.
Ein Nachstellen der Gefühle
Vielleicht aber muss Songwriting im 21. Jahrhundert genau so aussehen: spärlich, aber ohne Zwang zum Authentischen. Historisch informiert, ohne dabei retro zu sein. Auch Nite Jewel beginnt ihr Set mit den Sounds eines anderen Künstlers. Es ist R’n’B-Star Frank Ocean, dessen letztes Album nach seinem bisexuellen Coming-out vor allem als autobiografisches Zeugnis verstanden wurde. Und damit ist die Verwirrung perfekt. Denn was soll man denken, wenn „Thinking about you“ auf einmal von einer heterosexuellen Hispano-Amerikanerin gesungen wird anstatt von einem bisexuellen Afroamerikaner?
Pop ist ja immer auch ein Nachstellen der Gefühle, die man irgendwie gerade für passend hält, egal ob man die Gefühlslage nachvollziehen kann oder nicht. Nite Jewel weiß das genau und hat es in eine Zeile gegossen, die ihr für alle Zukunft einen Platz in Leitartikeln zum Thema Retropop eingebracht haben wird: „I’m a broken record. You have heard this before.“ Das wirklich Schöne an dieser Zeile ist aber, dass sie uns damit in die Irre führt.
Die Songs der jungen Kalifornierin sind eine Wiederholung mit Differenzen. Auf ihren Platten vergräbt sie 80er-Jahre-Referenzen unter einer Schicht aus verhalltem Gesang und Schlieren ziehenden Synthesizer-Pads oder verschiebt sie mit den billigsten Keyboardsounds in Richtung des bewussten Klischees.
Keine blöde Schlampe
Auf der Tanzfläche des King Georg verabschiedet sie sich von allen Ambitionen in Richtung Vintage, sondern ist vollkommen gegenwärtig. Anstatt sich hinter ausgewählten Original-Instrumenten zu verschanzen, nutzt sie alles, was einen Midi-Port besitzt, egal ob Synth oder Laptop. Und als sie ihren Synthesizer nach einem Absturz mit ein paar Handgriffen funktionsfähig macht, meint sie: „Ich bin keine blöde Schlampe, die nicht weiß, wie man ein Keyboard bedient.“ Das ist der Unterschied zu den 80ern, als Frauen die Frontfiguren für die knöpfchendrückenden Jungs waren.
Nite Jewel beherrscht beides: die Technik und ihr Publikum. Immer wieder nähert sie sich ihren Fans auf Augenhöhe, dann wieder spielt beidhändig Bassline und Synthmelodie, ohne sich beim Gesang zu verhaspeln. So viel Präsenz zeigt Wirkung. Bei „One Second of Love“ fliegen die Arme in die Luft, bei den anderen Stücken wird so viel getanzt, wie es in der schwitzigen Enge des King Georg möglich ist.
Zum Schluss sind alle schweißgebadet: die Musiker, der Veranstalter und wir. Nur auf eine Zugabe hat Nite Jewel keine Lust. Stattdessen legt sie lieber auf und trinkt den Rest des Abends „Drinks für alte Männer“. Stimmt schon. Ihre Musik klingt wie eine Platte mit Sprung. Aber sie hat sie selbst aufgenommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Getöteter General in Moskau
Der Menschheit ein Wohlgefallen?
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Bombenattentat in Moskau
Anschlag mit Sprengkraft
Weihnachten und Einsamkeit
Die neue Volkskrankheit
Sturz des Assad-Regimes
Freut euch über Syrien!
Foltergefängnisse in Syrien
Den Kerker im Kopf