Nigerianische Kunst in Venedig: Die zersplitterte Utopie
Das krisengebeutelte Nigeria präsentiert sich auf der Kunstbiennale in Venedig selbstbewusst. Welches Bild will das Land von sich vermitteln?
Verträumt mischt sich der Klang Hunderter kleiner Glocken mit dem Rascheln von Gras und Blättern im Wind. Dazu kommen Stimmen aus Lautsprechern, die von Bewegungssensoren gesteuert sind.
Als von Pflanzen umschlungener Sendeturm steht die Installation „Pre-Sky/ Emit Light: Yes Like That“ der nigerianisch-amerikanischen Künstlerin Precious Okoyomon im Innenhof eines Palazzos aus dem 16. Jahrhundert in Venedig. Dort präsentiert sich Nigeria noch bis Ende November auf der 60. Kunstbiennale, seit 2015 das zweite Mal mit einem eigenen Länderpavillon.
Den nationalen Auftritt organisiert hat das gerade erst in Benin-City entstehende Museum of West African Art (MoWAA). Man kennt vielleicht die Renderings von seinem erdfarbenen, flachen Bau, entworfen vom international gefeierten aber seit MeToo-Vorwürfen gegen ihn wieder aus dem Rampenlicht zurückgetretenen ghanaisch-britischen Architekten David Adjaye.
Das neue MoWAA im Bundesstaat Edo galt in der Restitutionsdebatte länger als jenes Haus, in dem auch die an Nigeria wieder zurückgegebenen sogenannten Benin-Bronzen aufbewahrt werden könnten – bis im letzten Jahr Präsident Muhammadu Buhari verfügte, die in Sammlungen weltweit verhandelten Objekte dem Oba zu übereignen. Und der Oba, als Nachkomme des einst beraubten Königshauses von Benin, hätte für sie lieber ein eigenes Museum.
„Nigeria Imaginary“: Nigerianischer Pavillon im Palazzo Canal, Kunstbiennale Venedig, bis 24. November 2024
Kein Platz für kulturpolitische Unstimmigkeiten
Solch kulturpolitische Unstimmigkeiten aus Nigeria sollen aber offenbar in Venedig keine Rolle spielen. Denn Aindrea Emelife, die Kuratorin für zeitgenössische Kunst im zukünftigen MoWAA, legt mit ihrem Programm „Nigeria Imaginary“ einen selbstbewussten Auftritt des Landes hin.
Acht in der Diaspora lebende Künstler*innen hat sie eingeladen. Die meisten von ihnen sind wie Okoyomon prominent im internationalen Kunstbetrieb etabliert. Sie alle vermitteln das Bild von einem Nigeria, das seit seiner Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft 1960 politisch und wirtschaftlich zwar tief gespalten ist, aber für die Kulturwelt wichtige Stimmen hervorgebracht hat. Die Biennale, sie ist auch Politik mit den Mitteln der Kunst.
Okoyomon, die 1993 in London geboren wurde und bis zu ihrem siebten Lebensjahr in Nigeria lebte, hat für die Klanginstallation im Hof des Palazzos unterschiedlichsten Menschen auf den Straßen von Lagos dieselben zehn Fragen gestellt. Etwa „Beschreiben Sie einen Morgen, an dem Sie ohne Angst aufgewacht sind“ oder „Was hat das Leiden Ihrer Mutter verursacht?“ Sachte schallen nun in Venedig die Ängste, Albträume und alltäglichen Gewalterfahrungen in Nigeria hin zu den Biennalebesucher:innen, aber auch Träume und Wünsche.
Viele hätten geantwortet, sich nicht zu erinnern, wann sie das letzte Mal ohne Angst aufgewacht seien, erzählt Okoyomon im taz-Gespräch während der Ausstellungseröffnung. „Das ist eine Reibung von Energie, die sich durch die Städte zieht. Wie eine ständige Vibration, eine Urangst.“ Sie selbst trage ein „zersplittertes Nigeria“ in sich, da sie mit ihrer Mutter in den USA aufwuchs, aber jeden Sommer bei ihrem Vater in Lagos verbrachte.
Die Glocken habe sie in Benin-City herstellen lassen, dem Gebiet des schillernden vorkolonialen Königreichs Benin, dessen Reichtum sich zeitweilig selbst aus dem Sklavenhandel mit den Europäern speiste: „Der Klang trägt Erinnerung.“
Erinnerungen an den Biafra-Krieg
Wie persönliche Erinnerungen mit der Trauer über die Geschichte des Landes verbunden sind, zeigt auch die Installation „Ilé Oriaku (House of Abundance) von Toyin Ojih Odutola. Die Künstlerin, 1985 im nigerianischen Ilé-Ifè geboren, in Kalifornien und Alabama aufgewachsen und heute in New York lebend, wurde bekannt durch ihre mehrschichtig mit schwarzem Kugelschreiber gezeichneten Figuren. Den Hintergrund lässt sie dabei häufig weiß, so wird die Haut zum Ort, an dem die Bildzusammenhänge entstehen.
Im Palazzo hat Odutola ihre Malereien in hinterleuchtete Glaskästen geheftet. Durch das Glas etwas verschwommen, fällt der Blick auf die persönliche Erinnerung der Künstlerin an ihre kürzlich verstorbene Großmutter. Die alte Frau, eine Igbo, jene Bevölkerungsgruppe Nigerias, um die sich auch 1967 der nigerianische Bürgerkrieg entfesselte, stellt sie in einem Mbari-Haus dar.
Die Tradition dieser nach einem Versöhnungsritual in der Landschaft zerfallenden, offenen Bauten ist während der britischen Kolonialherrschaft und den Folgen des Biafra-Kriegs verloren gegangen. Auf ihren Bildern macht Odutola das Mbari Haus nun zu einer Utopie. „Ich schaffe mir meine Heimat in meiner Arbeit. Das ist das Nigeria, in dem ich leben möchte“, sagt die Künstlerin.
Über die aktuelle Situation von Frauen oder der drastischen Anti-LGBTQ-Gesetzgebung in Nigeria möchte sich die offen queer lebende Künstlerin nicht äußern. Während der Arbeit an den Bildern hörte sie viel nigerianische Highlife-Musik aus der Zeit, als ihre Großmutter eine junge Frau war, in der Zeit der Post-Unabhängkeit der 1960er Jahre, als im Land kurz Aufbruchstimmung herrschte.
Restitution der Benin-Bronzen
Mit seinem „Monument to the Restitution of the Mind and Soul“ (Denkmal zur Wiedergutmachung von Verstand und Seele) greift der 1962 in London geborene, nigerianisch-britische Künstler Yinka Shonibare erneut die Diskussion um die Restitution der vielen Tausend 1897 von den Briten geraubten Benin-Bronzen auf.
Wie so häufig wendet Shonibare dafür den Kunstgriff der Entfremdung an: Eine Reihe von historischen Bronzen ließ er durch Ton nachbilden. Den Kopien setzte er die Büste des damals für die „Strafexpedition“ in Benin leitenden Offiziers Sir Harry Rawson entgegen. In einer Vitrine, „analog zu den Artefakten, die aus ihren rituellen Kontexten herausgenommen wurden“, so der Künstler im Gespräch.
Rawsons Büste ist, wie es Shonibares Skulpturen häufig sind, mit dem Muster vermeintlich traditioneller westafrikanischer Textilien bemalt. Die Waxprints sind jedoch in der Kolonialzeit nach dem Vorbild indonesischer Stoffe in Holland gefertigt worden (heute werden die bedruckten Textilien viel in China produziert) und fanden in Westafrika einen sehr guten Absatz.
„Viele Menschen verstehen nicht, dass die aktuellen Probleme Nigerias aus der Erfahrung kolonialer Unterdrückung kommen“, so Shonibare. „Sie haben sich bis heute in die Psyche eingeschrieben.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Donald Trump wählt seine Mannschaft
Das Kabinett des Grauens
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist