Nhung Dam über Realität und Roman: „Fantasie kann ein Ausweg sein“
Nhung Dam ist in den Niederlanden als Schauspielerin erfolgreich. Im Interview spricht sie über Herkunft, Migration, Familie und ihr Romandebüt „Tausend Väter“.
taz: Nhung Dam, Sie kommen gerade von einer Probe zu Anton Tschechows „Drei Schwestern“. Welche der Schwestern spielen Sie denn?
Nhung Dam: Ich spiele die Irina. Das ist eine Traumrolle für mich. Denn Irina hat so wahnsinnig hohe Erwartungen ans Leben. Sie gibt sich mit nichts so leicht zufrieden. Das passt zu mir. Ich möchte auch so gerne ein besonderes Leben führen.
Eine asiatisch aussehende dritte Schwester – das war kein Problem?
Schon auf der Schauspielschule fand ich Tschechows Stück toll. Doch damals sagte mir ein Regisseur: „Die Irina wirst du niemals spielen. Dann denkt ja jeder, du wurdest adoptiert!“ Doch die Dinge ändern sich. Mittlerweile geht das.
Ihre Eltern kamen Ende der 1970er Jahre als vietnamesische Bootsflüchtlinge in die Niederlande. Sie selber wurden 1984 in Groningen geboren und wuchsen dort am Stadtrand auf, im Migrantenviertel Beijum.
Das Viertel wurde in den 1970er Jahren geplant, und es zogen viele Migranten, Sozialhilfeempfänger und Leute mit niedrigen Einkommen hin. Auch viele traumatisierte Flüchtlinge aus Vietnam wurden damals dort einquartiert, darunter meine Eltern. Für mich war Beijum aber ein sehr farbiger, lebendiger Ort. Es passierten komische und auch unheimliche Sachen. Im Vergleich zu den Bauerngehöften in der Umgebung hatte ich das Gefühl, in einer Kirmeskulisse aufzuwachsen.
Ihr Debütroman „Tausend Väter“ spielt in einem Ort namens Beiahêm. Dort geht es weniger bunt zu. Seit der Vater der elfjährigen Erzählerin Nhung weggegangen ist, herrscht Winter.
Beiahêm ist der alte Name von Beijum. Ich wollte mein Heimatviertel zum Ausgangspunkt für meinen Roman machen, aber auf abstrakte Weise. Als ich mich in die Geschichte der Gegend vertiefte, merkte ich, dass Beijum auf einer Erhöhung liegt und dass dort vor sehr langer Zeit die ersten Menschen in der Region sesshaft wurden. Das hat mich fasziniert. Denn auch wir haben uns da ja angesiedelt. In meinem Roman wird Beiahêm sogar zur Insel, weil das Wasser steigt. Allerdings habe ich die Niederlande bewusst nicht genannt, weil ich diesen Ort universell halten wollte.
Der Platz wird eng, und in der örtlichen Kneipe wird immer lauter gefragt, wer in Beiahêm bleiben darf und wer gehen muss. Die Schülerin Nhung will von sich aus fort. Ständig wird sie gemobbt und bedrängt. Beiahêm bietet einfach keine Perspektive für sie.
Nhung will den Ort nicht unbedingt verlassen, sondern ihm eher entwachsen. Sie wurde da zwar geboren, wird aber dauernd als Fremde abgestempelt. Ich kenne das auch und frage mich oft: Kann man sich irgendwo einfach aus sich selbst heraus zu Hause fühlen? Oder müssen andere Menschen dieses Heimischsein auch zulassen?
Nhung ist sehr allein. Ihr Vater ist verschwunden, und ihre Mutter kommt in eine psychiatrische Einrichtung. Doch ein Segler mit dem verheißungsvollen Namen Amour legt in Beiahêm an und gibt ihr Hoffnung auf ein anderes Leben. Später gerät sie in die Fänge des rechtsgesinnten Vaters einer Schulfreundin. Nhung trägt denselben Namen wie Sie. Erzählen Sie hier Ihre eigene Geschichte?
Plottechnisch musste ich Nhung ganz schön in die Enge treiben. Diese Dramatik gab es so in meinem Leben nicht. Aber das Gefühl, total in der Klemme zu sitzen, das kenne ich auch. Und das Gefühl, dass man sich als Kind in einer Erwachsenenwelt nicht freikämpfen kann. Und dass einem als Kind nicht zugehört wird, auch wenn man manche Dinge viel klarer sieht als die Erwachsenen. Und dass Fantasie ein Ausweg sein kann.
Wie Nhungs Vater hat auch Ihr Vater die Niederlande wieder verlassen. Sie blieben mit Ihrer Mutter allein zurück.
Ja, aber anders als im Roman geschah das nicht auf einen Schlag. Mein Vater war beruflich oft in Vietnam und hat dort eine andere Familie gegründet. Und für diese Familie hat er sich am Ende entschieden. Das hat mich lange beschäftigt. Meine Mutter fühlte sich sehr im Stich gelassen, schließlich hatten die beiden die Flucht aus Vietnam gemeinsam überstanden.
Haben Ihre Eltern Ihnen vom Vietnamkrieg und von der Flucht über das Meer erzählt?
Nein, darüber haben sie nie wirklich gesprochen. Das muss zu traumatisch gewesen sein. Ich wusste wohl, dass sie Flüchtlinge waren, aber genaue Vorstellungen davon hatte ich nicht. Im Gymnasium haben wir irgendwann den Vietnamkrieg durchgenommen. Und da fiel bei mir auf einmal der Groschen: Das ist ja die Geschichte meiner Eltern! Ich weiß noch, dass in unserem Geschichtsbuch ein Foto von so einem überfüllten Boot abgedruckt war und dass ich auf dem Foto meine Eltern gesucht habe. Als ich nach Hause kam, wollte ich sie danach fragen, aber sie wehrten meine Fragen ab. Wir haben seither auch nicht mehr richtig darüber geredet. Einmal aber habe ich meine Mutter mit nach Amsterdam genommen, und wir mussten dort mit der Fähre über den Fluss IJ. Da bekam sie auf einmal große Angst vor dem Boot und vor dem Wasser. Das musste noch von der Flucht herrühren.
Nhung Dam: „Tausend Väter“. Aus dem Niederländischen von Bettina Bach und Christiane Kuby. Ullstein Verlag, Berlin 2019, 400 Seiten, 20 Euro.
In Ihrem Roman gibt es eine Szene, in der Sie die Flucht der Eltern in einem Boot beschreiben …
… aber genau diese Szene habe ich fast komplett erfunden. Natürlich habe ich Dokumentationen gesehen und Fluchtgeschichten gelesen. Aber die Geschichte meiner Eltern kenne ich nicht genau.
Es gibt inzwischen einige weltweit sehr erfolgreiche Autor*innen deren Herkunft auf unterschiedliche Weise mit Vietnam verknüpft ist. Viet Thanh Nguyen etwa oder Kim Thúy. Oder auch Linda Lê und Ocean Vuong. Lesen Sie die Bücher dieser Kolleg*innen?
wurde 1984 im niederländischen Groningen geboren. Ihre Eltern sind aus Vietnam geflohen und bauten sich in Groningen über einen Imbiss eine neue Existenz auf. Nhung Dam studierte Psychologie und besuchte später die Theaterschule in Amsterdam. Sie ist Theaterautorin und Schauspielerin. Zuletzt spielte sie die Irina in Anton Tschechows „Drei Schwestern“. Ihr Debütroman „Tausend Väter“ erzählt von der elfjährigen Nhung, die als Kind vietnamesischer Eltern an einer Küste „am Rande der Welt“ aufwächst.
Ich habe ihre Bücher zu Hause, aber ich habe kein einziges davon gelesen. Immer wenn ich eins aufschlage und ein Stück lese, dann denke ich: Das kenne ich alles schon! Die vietnamesische Kultur kenne ich so gut, doch die niederländische Kultur musste ich mir mühevoll aneignen. Auch um den Niederländern immer wieder zu beweisen, dass ich hierher gehöre und dass ich so bin wie sie. Vieles habe ich erst sehr spät kennengelernt, zum Beispiel die Musik von den Beatles. Zu Hause hörten wir vietnamesische Musik, wir sprachen vietnamesisch, und wir aßen mit Stäbchen. Ich weiß noch, wie ich einmal bei einer Schulfreundin zum Essen eingeladen war, und ich konnte noch nicht mit Messer und Gabel umgehen. Es gab Frikadellen, und mir ist eine davon quer über den Tisch geflutscht. Es war schrecklich.
Trotzdem haben Sie diese Bücher gekauft, und Sie bewahren sie zu Hause auf?
Ja, das ist komisch. Ich weiß auch nicht warum.
Haben Sie – wie Nhung im Roman – auch manchmal Lust aufzubrechen und nochmal woanders hinzugehen?
Weggehen würde ich nicht. Ich habe mir die niederländische Sprache so zu eigen gemacht – woanders könnte ich mich als Autorin und Theatermacherin ja gar nicht ausdrücken. Aber ich habe oft Sehnsucht nach einem ganz anderen Leben. Ich bin sehr stark auf der Suche, auch nach dem Kern der Geschichte, die ich eigentlich erzählen will. Immer jage ich hinter etwas her. Ich strenge mich deshalb oft sehr an, aber ich weiß nicht genau warum. Eigentlich bin ich ziemlich erfolgreich, aber ich muss ständig weiter. Ich frage mich: Suche ich das Glück für mich selbst, oder versuche ich, etwas für meine Eltern zu kompensieren? Aus den Opfern, die sie gebracht haben, ist mein Leben ja hervorgegangen.
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