New York privat: „I am so busy!“
Man kann in der Stadt ein ganz normales Leben führen - wenn man verrückt ist. Die Stadt ist Mythos, das Klischee nie weit entfernt, und alles ist irgendwie großartig!
Zweieinhalb Jahre habe ich in New York gelebt. Ich habe gesehen, wie Hunde Gassi getragen werden, wie jede Frau zur Maniküre geht und sicher jeder zweite Mann. Ich habe überdurchschnittlich viele Artikel über den überdurchschnittlich hohen Frauenüberschuss in dieser Stadt gelesen, gesehen, dass hier alle mehrere Eisen im Feuer bzw. Typen an der Hand haben, und meine Schlüsse daraus gezogen, wieso fast alle meine (Single-)FreundInnen Katzen oder Hunde haben.
Ich habe zwei Businessfrauen in der U-Bahn von ihrem Tortendekorationskurs schwärmen gehört und eine Lehrerin für Einwecken und Einlegen kennengelernt, für eingelegte Gürkchen vom Biomarkt 10 Dollar gezahlt, auf der Promenade von Brighton Beach zur Mittagszeit neben Hippie und Omi getanzt, Brooklyn Lager und Sierra Nevada Pale Ale getrunken (niemals Bud Light!). Mich für alles, was auch nur mittelmäßig interessant oder vermeintlich lecker ist, in eine Schlange gestellt. Verstanden, warum manche ihre Stadt „New York Shitty“ nennen.
Man kann in New York ein ganz normales Leben führen – wenn man verrückt ist. Nicht viel Geld zu haben macht das Leben schwer, nicht reich zu sein ist auch schon ein Nachteil. In New York leben Vierzigjährige noch in WGs. Die sind oft sehr schick, aber das Zimmer kostet so viel wie in Berlin eine ganze Wohnung, und nicht jeder läuft gern an Autowerkstätten und Brachflächen nach Hause.
Dumbo: Eine aufstrebende und mittlerweile sehr teure Gegend direkt zwischen Brooklyn Bridge und Manhattan Bridge. Zeichnet sich durch Inselhaftigkeit aus - viele erfolgreiche Künstler und Reiche leben dort in ihren Fabriklofts, eingerahmt durch den East River und den Housing Projects, den New Yorker Sozialwohnungsblocks mit vielen Grünflächen dazwischen, wo man mit seiner Gang abhängen kann Das ist wie „Lindenstraße“ für Großstadtneurotiker mit Geld und Kunst an der Wand.
Coney Island, Brighton Beach: Russen-Enklave mit Restaurants an der Promenade, die „Natascha" und „Svetlana" heißen, morbider Vergnügungspark am Strand und Ruhesitz für alte Leute. Die Frittenbude Nathans gibt es seit 1916 und verkauft die berühmten Hotdogs. Aber mein Geheimtipp ist die gemischte Fischplatte (fish platter) mit Muscheln, Krabben, Fisch, aufs Feinste frittiert, mit Pommes und „Tartar Sauce".
Der Deli: Je nach Lage fast rund um die Uhr geöffnet, bietet er vom Pflaster über Kopfschmerztabletten bis hin zum „Liverwurst-Sandwich" so einiges.
Kinderwagen in Park Slope: Süße Plage der besseren Gegenden Brooklyns. Café-Eingänge und veganische Restaurants, selbst Biergärten sind zugestellt mit Tausenden und Abertausenden hochpreisigen Buggies. Die Mütter trinken Chai Latte mit Halbfettsojamilch und arbeiten entspannt an ihren MacBook Pros, während der Nachwuchs - ganz Laisser-faire - den Laden zusammenbrüllt. Für diese Erfahrung, das wissen vor allem die Berliner taz-Leser, kann man übrigens auch nach Prenzlauer Berg kommen.
Die U-Bahn ist nachts und frühmorgens voll mit schlafenden Mexikanern, Dominikanern, Indern, Vietnamesen … Die sind auf dem Hin- oder Heimweg von ihren 12-Stunden-Schichten, bei denen sie umgerechnet 3 Euro die Stunde verdienen. Die Kinder- und Müttersterblichkeit ist unter Latinas und Afroamerikanerinnen unverhältnismäßig hoch – sie haben keine Krankenversicherung. Deswegen haben in New York viele Leute schiefe Zähne. Nix Zahnspange.
„Amerika ist ein Dritte-Welt-Land!“, höre ich manchmal. Und manchmal, wenn ich wütend bin, weil die Straße überschwemmt ist, ich auf der Post nach zwei Stunden Warten übel abserviert werde, es in der U-Bahn-Station auf meinen Kopf tropft, während der Zug einfach nicht kommt, glaube ich das auch.
Wenn man in New York gefragt wird, wie es einem geht, sagt man nicht „gut“. Man sagt: „I am so busy!“ Erst dann ist man ein richtiger New Yorker.
Jeder weiß es besser
New York ist so, wie man es sich vorstellt und aus den Filmen und Krimiserien kennt. Ab und zu ist eine der gelben Plastikabsperrungen dabei, hinter der das Opfer (hoffentlich) mit einem weißen Tuch verdeckt ist.
Nur in den Krimiserien leben die einsamen Kommissare immer in dunklen Wohnungen mit verschlossenen Jalousien, durch die die blinkenden Lichter der Oben-ohne-Bar scheinen und das Rattern und Quietschen der U-Bahn zu hören ist. Ich habe nie in solchen Wohnungen gewohnt. Vielleicht, weil Giuliani die Oben-ohne-Bars verboten hat. Der ehemalige New Yorker Bürgermeister hat auch das spontane Tanzen in Kneipen verboten. Und der Nachfolger Bloomberg das Salz im Essen. Die Stadt ist Mythos und das Klischee nie weit entfernt.
Und sie ist so groß, dass man seine eigenen Schätze finden kann. Im Kaff kennt jeder alles. In New York weiß es jeder besser; wo es die beste Pizza gibt, den besten Burger, die tollste Wurst, die knackigste Kunst – aber auch die miesesten Bagels, das ödeste Musical, das scheußlichste Theaterstück. New Yorker haben immer eine Meinung. Sie wissen Bescheid und tun es mit schneidendem Sarkasmus kund. Wenn sie etwas mögen, finden sie es richtig, richtig, richtig, richtig großartig: „Great!“ – „Awesome!“ – „Amazing!“ – „Hilarious!“ Das Ausrufezeichen ist des New Yorkers liebstes Satzzeichen.
Alles im Superlativ
Ein Freund auf Besuch weist auf ein Schild „Best Burger of the World!“ und schaut mich erwartungsvoll an. „Das ist nur ein Schild, Mark“, antworte ich ihm. Genau genommen gibt es in den USA nur Schilder zu bestellen, die „best of“, „world-famous“, „mega super“ in Kombination mit „of the world“, „of the universe“ und „of the galaxy“ enthalten. Understatement ist ein britisches Wort, kein amerikanisches.
In New York kann auch ein Neuankömmling Experte werden. Man muss nur eine Gegend wählen, wo sonst keiner aus der Peergroup wohnt. Allerdings kann es sein, dass man dann nie Besuch bekommt. Vielleicht auch wegen der Kriminalstatistik.
Apropos: Eine meiner Nachbarschaften, in denen ich in meiner Zeit in New York gelebt habe, war Bedford-Stuyvesant (Bed-Stuy). The Notorious B.I.G. und andere Gangster-Rapper sind hier aufgewachsen. Diesen Einfluss hört man täglich vom Fenster aus: HipHop rauf und runter und böse Wörter, die mit B, F, N oder M anfangen. Die Autos sind Karren, aber die Musikanlage ist vom Feinsten. Vor Giuliani und zehn Jahren war das eine sehr gefährliche Gegend New Yorks.
Als ich 2010 dorthin zog, war ich oft die einzige Weiße auf der Straße. Nach einem guten Jahr wurde das anders. Plötzlich gab es Cafés voller Hipster, die sich Halbfettsojamilch für den Chai Latte wünschten. Künstler und Studenten sind die Crash-Test-Dummies der Gentrifizierung. Die Mieten gehen schneller hoch, als die Mordrate runtergeht. Condos werden gebaut und Familien, alte Menschen, vor allem arme Leute weggetrieben, die sich die überzogenen Mieterhöhungen nicht leisten können.
In der Straße, in der ich gelebt habe, war jedes dritte Haus eine Kirche – Mount Pisgah Baptist Church, Mount Olive Temple, Lion of Judah Ministries, New Jerusalem Baptist Church, Saint Pauls Church, Shiloh Baptist Church, First AME Zion Church.
Hello snow flake
Eine afroamerikanische Oma lächelt mich an und sagt „Good morning, white lady!“ Eine andere ältere Dame mit dunkler Haut, aber knallgelben Haaren brüllt einer Ratte hinterher „You fat motherfucker!“
Als ich 2010 nach Bed-Stuy ziehe, wird eine Woche später ein junger Mann erschossen, direkt vor meiner Tür; „gangs and drugs“, sagt mir der Nachbar. Noch Monate später stehen Kerzen und ein gemaltes Pappschild mit Herzchen an der Straßenecke. Ich habe an vielen Ecken New Yorks diese Kerzen und Schilder gesehen. 10 Dollar „mugging money“ habe ich immer dabei (to mug = slang für ausrauben), in einem zweiten Geldbeutel. Ich werde nie überfallen, auch nicht um 4 Uhr morgens. Meine Nachbarn grüßen mich auf der Straße, manchmal mit „Hi vanilla ice-cream!“ oder „Hello snow flake!“
Einmal ist mir etwas passiert: Ein winziger Chihuahua hat mich in die Wade gebissen. Der Teufel ist ein Schoßhund. Natürlich vermisse ich New York.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen