Neuköllner Nazi-Prozess: Das Opfer auf der Anklagebank
Im Berufungsprozess zum Neukölln-Komplex sagt Ferat Kocak als Zeuge aus. Die Anwälte der Neonazis versuchen, seine Glaubwürdigkeit infrage zu stellen.
Er könne bei dem Prozess nur verlieren, so der Linken-Abgeordnete Ferat Koçak vor dem Landgericht im Berufungsverfahren zum Neukölln-Komplex. Sollten die beiden angeklagten Neonazis schuldig gesprochen werden, befürchte er „Racheaktionen“, bei einem Freispruch könnten sich die Täter zu neuen Anschlägen „motiviert fühlen“. Eine „Lose-lose-Situation“. Deshalb wolle er nur, „dass das alles endlich aufhört“ – seiner angeschlagenen psychischen Gesundheit zuliebe.
Doch Koçak, Opfer eines Brandanschlages im Februar 2019 auf sein an seinem Einfamilienwohnhaus in Rudow abgestelltes Auto, musste sich am Montag zum wiederholten Male detailliert mit dieser Nacht und ihren Folgen auseinandersetzen. Fast fünf Stunden lang stand er dem Gericht, seiner Anwältin, die den Prozess als Nebenklägerin begleitet, und den Anwälten der angeklagten Neonazis Sebastian T. und Tilo P. Rede und Antwort.
Zuweilen musste er sich dabei vorkommen, als sei er selbst auf der Anklagebank. Mirko Röder, Verteidiger von P., wollte schon zu Beginn eine Belehrung Koçak s durch die Richterin erreichen, weil dieser öffentlich von einem „rechtsextremen Netzwerk in Justiz und Polizei“ spreche. Das Gericht folgte dem Ansinnen nicht, doch in ihren Befragungen setzten Röder sowie seine Kollegen Carsten Schrank und Gregor Samimi weiter darauf, die Glaubwürdigkeit Koçak s infrage zu stellen, etwa hinsichtlich unterschiedlicher Angaben zur Uhrzeit, wann Koçak am Tattag nach Hause gekommen war.
Röder provozierte Koçak etwa mit Fragen, ob dieser als Mitglied der Linken in der richtigen Partei sei, wenn er sich doch gegen Antisemitismus einsetze, ob er sich verstrickt habe in eine Doppelrolle als Geschädigter und ehemaliges stellvertretendes Mitglied des Neukölln-Untersuchungsausschusses oder ob er den Freispruch hinsichtlich der Brandanschläge in der ersten Instanz als „Farce“ bezeichnet hatte.
Viele offene Fragen
Koçak selbst verwies wiederholt auf die offenen Fragen in den Ermittlungen, etwa nach einem vermeintlichen Treffen eines Kriminalbeamten mit einem der Hauptangeklagten, nach einem ehemaligen Oberstaatsanwalt, der gegenüber Tilo P. durchblicken lassen haben soll, selbst AfD-nah zu sein, oder aber auch der ausgebliebenen Warnung durch die Sicherheitsbehörden, die wussten, dass sein Wohnort ausspioniert worden war.
Als Letzteres Ende 2019 bekannt wurde, sei er, so Koçak, „zum zweiten Mal Opfer des Anschlags geworden“. Er berichtete, wie er nach dem Anschlag „das Vertrauen in die Welt verloren habe“, seinen Job an einer Hochschule verlor und nur aus persönlichem Schutzinteresse den Weg in die Öffentlichkeit ging und zum Abgeordneten wurde. Wirklich neue Erkenntnisse brachte die Befragung derweil nicht.
Vor einer Woche hatte die Generalstaatsanwaltschaft die Wohnungen von Sebastian T. und Tilo P. aufgrund zweier weiterer noch nicht gerichtlich verhandelter Brandanschläge durchsuchen lassen. Betroffen von den Razzien war mit Julian B. auch ein dritter polizeibekannter Neonazi. Carsten Schrank, Verteidiger von Sebastian T., hatte daraufhin erfolglos die Aussetzung des Prozesses gefordert, schließlich könnte der Verdacht gegen B. seinen Mandanten im laufenden Prozess auch entlasten.
Auch das zweite Opfer der untersuchten Anschläge, der Buchhändler Heinz Ostermann, begann am Montagnachmittag mit seiner Zeugenaussage. Auf einer Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude sagte er, die Chancen auf eine Verurteilung der Neonazis stünden schlecht. Dies führe dazu, dass diese „sich in Sicherheit fühlen und die Anschläge weitergehen“. Erst Ende Oktober waren an seinem Auto zwei Reifen zerstochen worden.
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