Neues im Fall Kentler: Aufklärung bleibt schwierig
Forscher stellen einen Zwischenbericht zum Kentler-Experiment vor, bei dem Berliner Bezirke Pflegekinder an Pädophile vermittelten.
![](https://taz.de/picture/3802652/14/123211631.jpeg)
Die Aufarbeitung eines der größten pädagogischen Skandale der Nachkriegsgeschichte geht nur mühsam voran. Fußend auf dem sogenannten Kentler-Experiment wurden in Westberlin seit dem Ende der sechziger Jahre bis 2001 Pflegekinder von Jugendämtern an vorbestrafte Pädosexuelle vermittelt.
Ein Forschungsteam stellte am Montagnachmittag in der Bildungsverwaltung einen ersten Zwischenbericht vor, der nach ersten Eindrücken nur wenig Neues beinhaltet. Das Team soll untersuchen, wie es zu dem sogenannten Kentler-Experiment kommen konnte und welche Lehren daraus für die heutige Jugendhilfe gezogen werden müssen.
Neben Aktenstudium und Zeitzeugenbefragungen haben die Forscher*innen bislang drei Betroffene ausfindig machen können. Zwei von ihnen standen für Interviews zur Verfügung. Unklar ist weiter, wie viele solcher vermeintlichen Pflegestellen es gegeben hat – ebenso wie viele Opfer es insgesamt in diesem Zeitraum gab.
Die Betroffenen, die befragt wurden, berichteten laut Julia Schröder Erschreckendes: Die Opfer seien psychisch belastet, hätten in den „Pflegestellen“ vollständige Isolation erfahren und keinerlei Möglichkeiten gehabt, sich Hilfe zu holen.
Neu ist laut Senatorin Sandra Scheeres (SPD) die Erkenntnis, dass auch Kinder und nicht nur Jugendliche unter den Opfern waren und sich die Unterbringung bei vorbestraften Pädosexuellen bis Anfang der 2000er Jahre länger als gedacht hinzog. Scheeres versprach, weiter „alles zu tun“, um Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe aufzuklären, und nannte es „zynisch und menschenverachtend“.
„Zärtliche Fürsorge“
Die Vermittlung durch die Jugendämter Friedrichshain-Kreuzberg und Tempelhof-Schöneberg war dabei wohl nur einigen Mitarbeiter*innen bekannt. Legitimiert war die Vermittlung in diese „Pflegestellen“ durch Gutachten und ein vermeintliches „Experiment“ des damals renommierten und inzwischen verstorbenen Sozialpädagogen Helmut Kentler, der sich für die Legalisierung von Sex mit Minderjährigen einsetzte und es für heilsam hielt, wenn Straßenkinder bei vorbestraften Pädophilen untergebracht würden.
In einem sogenannten Modellprojekt brachte er Ende der 60er Jahre erstmals mit behördlicher Genehmigung Pflegekinder bei vorbestraften Pädosexuellen unter – und zog später, nachdem alle mutmaßlichen Straftaten verjährt waren, ein positives wie empörendes Fazit aus dem „vermeintlichen Experiment“: „Sekundärschwachsinnige“ Analphabeten hätten sich durch die zärtliche Fürsorge der Pädosexuellen zu selbstständigen Persönlichkeiten entwickelt, die ein „ordentliches, unauffälliges Leben“ führten.
Nach Erkenntnissen des Forscherteams hat Kentler zudem den Kontakt zu den vermeintlichen Pflegevätern lange aufrecht erhalten. Nach Schilderungen von Betroffenen sei er ein Freund, ja Mentor der Pädosexuellen gewesen. Die Betroffenen hätten ihn mit den Pflegevätern sogar zu Weihnachtsfesten in Hannover besucht.
Ein 2017 eingeleitetes Strafverfahren im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch wurden eingestellt.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Macrons Krisengipfel
Und Trump lacht sich eins
Frieden in der Ukraine
Europa ist falsch aufgestellt
Maßnahmenkatalog vor der Bundestagswahl
Grünen-Spitze will „Bildungswende“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
USA und Russland besetzen ihre Botschaften wieder regulär
Krisentreffen nach Sicherheitskonferenz
Macron sortiert seine Truppen
Gentrifizierung in Großstädten
Meckern auf hohem Niveau