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Stadtautobahn-Ausbau in HannoverNeues Schnellwegdrama, erster Akt

Beim Ausbau des Westschnellwegs will man schlauer sein als beim Südschnellweg-Drama und hat Bür­ge­r:in­nen beteiligt. Die wollen lieber Verkehrswende.

Soll diesmal nicht passieren: Polizisten räumen das Protestcamp „Tümpeltown“ am Südschnellweg Foto: Julian Stratenschulte/dpa

J etzt liegen sie also auf dem Tisch, die Empfehlungen des Bürgerrates zum Westschnellweg. Nach dem endlosen Drama um den katastrophalen Ausbau des Südschnellweges will man dieses Mal schlauer sein.

35 Bürger und Bürgerinnen, per Los bestimmt, sollten für eine kluge, sachorientierte Auseinandersetzung sorgen und Lösungsvorschläge entwickeln, die am Ende nicht zu Dauerprotesten und Baumbesetzungen führen. Und zu einer gigantischen Stadtautobahn, die eigentlich keiner will.

Und siehe da: Offenbar finden solche Bürger Klimaschutz tatsächlich wichtig und das Abholzen von Naherholungsgebieten nicht so gut. Sie wollen nicht, dass hier zehn Jahre an einer doppelt so breiten Straße gearbeitet wird, die am Ende nicht einmal einen Fahrstreifen mehr hat, sondern bloß einen Standstreifen. Sie möchten, dass auch der öffentliche Nahverkehr und der Rad- und Fußverkehr Berücksichtigung finden. Verrückt, wie grün die klingen, diese Bürger.

Jetzt warten wir mal, wer als Erstes anfängt, den Auswahlprozess zu bekritteln. Denn normalerweise ist es ja so: „Der Bürger“ oder „die Leute“, (in Redaktionskonferenzen früher gern auch „unsere Leser“) ist eigentlich mehr so eine wabernde Figur im Kopf des Sprechers, die herangezogen wird, um die eigene Position zu stärken und Ansprüche abzuwehren. Diese Figur setzt sich zusammen aus irgendwelchen Leuten, mit denen man in der vergangenen Zeit gesprochen hat. Oder von denen man Social-Media-Kommentare gelesen hat.

Jetzt warten wir mal, wer als Erstes anfängt, den Auswahlprozess zu bekritteln

Daraus formt sich dann ein Eindruck von „die Bürger wollen das so“, „das verstehen die Leute nicht“ oder „das interessiert unsere Leser nicht“. Wobei Zeitungen natürlich mittlerweile Klickzahlen auswerten können, was aber auch noch nichts besser gemacht hat. Wenn jedenfalls diese ominösen Bürger/Leute/Leser plötzlich keine amorphe Masse mehr sind, in die man alles mögliche hineininterpretieren kann, wird das meistens schwierig. Das kratzt auch oft sehr unangenehm an eigenen Gewissheiten.

Das Charmante an Bürgerräten ist, dass sie zumindest ansatzweise die Bubble durchstechen und die üblichen Verdächtigen außen vor lassen. Hier sitzen eben nicht die, die sich schon seit x Jahren mit dem Thema befassen und eine klare Agenda haben.

Die Wirtschaft fühlt sich nicht repräsentiert

Eine Schlagseite haben sie aber natürlich trotzdem: 2.000 zufällig gezogene Personen aus den betroffenen Stadtteilen und der Umgebung wurden angeschrieben. 95 bekundeten Interesse. Aus denen wurden wiederum 35 ausgelost. Man versucht dabei, eine Ausgewogenheit und Repräsentativität nach Geschlecht, Alter, Bildungsgrad, Wohnort und Migrationshintergrund herzustellen. Aber natürlich ist das oft nicht so leicht, weil manche Gruppen dazu tendieren, sich lieber nicht zu Wort zu melden.

Nicht repräsentiert fühlte sich übrigens die Wirtschaft. Kaum lagen die Empfehlungen auf dem Tisch, äußerte die IHK Kritik über die lokale Presse und forderte einen eigenen Wirtschaftsrat. Und der ADAC hat Sicherheitsbedenken: So eine Standspur erhöhe eben auch die Sicherheit für Einsatzkräfte am Unfallort, heißt es.

Die Debatte ist also noch lange nicht am Ende. Und auch die zuständige Landesbehörde für Straßenbau und Verkehr übt sich im Erwartungsmanagement. Man werde die Empfehlungen sorgsam prüfen und umsetzen, soweit es möglich ist. Das könnte am Ende auch heißen: Man schreibt sehr ausführliche Begründungen, warum das so leider alles nicht geht. Das ist ja neben der wabernden Bürgerfigur die zweite Lieblingsfigur im politischen Diskurs: Wir würden ja gern, aber wir können ja nicht. Vielleicht muss der Bürgerrat dann doch noch auf den Baum.

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Nadine Conti
Niedersachsen-Korrespondentin der taz in Hannover seit 2020
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1 Kommentar

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  • "2.000 zufällig gezogene Personen aus den betroffenen Stadtteilen und der Umgebung wurden angeschrieben. 95 bekundeten Interesse. Aus denen wurden wiederum 35 ausgelost. " Hier liegt der Hase im Pfeffer. Lediglich 95 von 2000 hatten überhaupt ein Interesse am Bürgerrat. Das sind eben auch die, die vorher schon eine Meinung hatten und für diese auch eintreten wollten. Das ist jetzt weder gut noch schlecht, bedeutet aber auch, dass der Bürgerrat eben nur den am Thema interessierten Menschen teilnahmen. Stichwort: lautstarke Minderheit versus schweigende oder desinteressierte Mehrheit.