Neues Lexikon: Update für Kant
Das neue Kant-Lexikon erschließt den Philosophen auf 3.000 Seiten. Darunter sind auch Einträge zu „Hexen“, „Fleischeslust“ oder „Trunkenheit“.
Als Immanuel Kant (1724–1804) seine Vorlesung für das Winterhalbjahr 1756 ankündigte, warnte er seine Hörer vor der „frühklugen Geschwätzigkeit junger Denker, die blinder ist […] und unheilbarer als die Unwissenheit“, und ließ die Hörer gleich wissen, er werde sie nicht Philosophie lehren, sondern ihnen „das Philosophieren“ vorführen, also das Selbstdenken, denn eine allgemeingültige Philosophie existiere nicht.
Um Philosophie zu lehren, „müsste ein Buch“ vorliegen, von dem man wie von einem Lehrbuch der Mathematik sagen könnte: „Sehet, hier ist Weisheit und zuverlässige Einsicht; lernet es verstehen und fassen. […] Die eigentümliche Methode des Unterrichts“ in der Philosophie ist […] forschend und wird nur bei geübter Vernunft in verschiedenen Stücken dogmatisch, d. h. entschieden.“ (Kant) Am Schluss des ersten seiner Hauptwerke wiederholte Kant 1781/1787 seine Warnung fast wörtlich.
Kant trug nicht fertige Resultate der Philosophie vor, sondern involvierte Hörer und Leser in den Akt des Nachdenkens und in die Voraussetzungen dafür – „das Philosophieren“ eben. Er interessierte sich für die Machart von Sätzen und deren Geltungsbedingungen jenseits von bloßem Glauben und Meinen.
Deshalb führen die Hauptwerke Kants den Begriff „Kritik“ im Titel: „Kritik der reinen Vernunft“ (1781/1787), „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788) und „Kritik der Urteilskraft“ (1790). Kritik gilt vor allem der herkömmlichen Metaphysik, also jenem Denken, das sich jenseits der Erfahrung bewegt – im Reich der Träume, Illusionen und Dogmen.
Marcus Willaschek, Jürgen Stolzenberg, Georg Mohr, Stefano Bacin (Hg.): „Kant-Lexikon“. 3 Bde., Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2015, 2.914 Seiten, 349 Euro. Bis Dezember noch für 249 Euro
Kant gilt als schwieriger Denker, weil er für sein kritisches Unternehmen eine ganz eigene Terminologie erfunden hat. So nennt er das Verfahren, die Bedingungen der Möglichkeit empirischer Inhalte – die Welt – zu erfassen und zu beurteilen, Transzendentalphilosophie. Entgegen dem alltagssprachlichen Gebrauch meint „transzendental“ aber nicht etwas jenseits der Erfahrung und des menschlichen Bewusstseins Liegendes, Quasi-Göttlich-Übernatürliches, sondern die denknotwendigen Voraussetzungen, um sinnlich Wahrgenommenes begrifflich überprüfbar ordnen zu können.
Empirisches Wissen oder Erfahrungswissen beruht auf der Verknüpfung von sinnlicher Wahrnehmung und Verstand. Dieses Wissen ist insofern zufällig, als es falsifiziert werden kann, wenn sich die Wahrnehmung verändert oder sich deren begriffliche Verarbeitung verfeinert. Allgemein gültiges (also nicht an Erfahrung gebundenes) Wissen dagegen nennt Kant apriorisches Wissen.
Dass Multiplikation und Addition vertauschbar (kommutativ) sind, gilt unabhängig von der Erfahrung aus reinen Vernunftgründen beziehungsweise logischen Operationen wie dem Nexus von Ursache und Wirkung in der Physik. Diese Vernunftgründe gelten a priori, das heißt erfahrungsunabhängig wie das „Ich denke“, das eine strukturelle Voraussetzung jeder Sacherkenntnis ist.
Über die Dinge an sich fantasieren
Eine ähnliche Abweichung von der Alltagssprache wie das Wort „transzendental“ enthält Kants Begriff vom „Ding an sich“ beziehungsweise „Ding an sich selbst“. Alltagssprachlich versteht man darunter Dinge, wie sie „eigentlich“ oder im „Kern“ sind und nicht nur nach ihrer „Erscheinung“. Für Kant sehen wir Dinge immer nur so, wie sie uns erscheinen. Über das, was die „Dinge an sich selbst“ sind, kann man gar nichts wissen, sondern nur fantasieren.
Kant beschäftigte sich nicht mit dem vermeintlich rein objektiven Sein, wie die Lehre vom Sein vorgibt, die Ontologie, sondern mit dem erkennenden Subjekt. Die erste veröffentlichte Schrift des 25-jährigen Kant beginnt mit „ich glaube“. Später fragt Kant kritisch-selbstreflexiv: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“
Den Schwierigkeiten, die Kants neues Denken bereitete, begegneten Philosophen schon zu seinen Lebzeiten mit Kant-Kommentaren und Kant-Wörterbüchern, um dessen Werk zu erschließen. Das erste erschien bereits 1786 und zwei weitere noch vor 1800.
Kant-Revival
Dann schlief das Interesse an Kant für ein Jahrhundert ein, bis der österreichische Philosoph Rudolf Eisler (1873–1926), Sohn eines reichen Kaufmanns sowie Vater des Komponisten Hanns Eisler und der deutschen Kommunisten Gerhart Eisler und Ruth Fischer, vor dem Ersten Weltkrieg ein Kant-Lexikon verfasste. Er schloss es 1916 ab – mitten im Krieg –, aber es konnte erst nach dem Tod Eislers 1930 erscheinen und blieb bis vor kurzem das maßgebliche Kant-Handbuch mit einem Umfang von 642 Seiten.
Nach 15-jähriger Arbeit erschien eben das neue Kant-Lexikon in drei Bänden mit zusammen 2.914 Seiten. Die Herausgeber Marcus Willaschek (Frankfurt), Jürgen Stolzenberg (Halle-Wittenberg), Georg Mohr (Bremen) und Stefano Bacin (Mailand) wurden unterstützt von 23 namentlich genannten wissenschaftlichen und studentischen Hilfskräften, die in die Forschungsarbeit eingebunden waren, und über 200 Autoren aus 23 Ländern sowie von einem Beirat aus führenden Kant-Experten. Finanziert wurde das beeindruckende Werk von der Fritz Thyssen Stiftung und von den Universitäten Frankfurt, Bremen und Halle.
Das neue Kant-Lexikon beruht auf der maßgeblichen Ausgabe der Werke Kants der Preußischen beziehungsweise Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und enthält 2.395 Artikel. Aufgenommen wurden philosophisch relevante Termini, die definiert und mit Hinweisen auf wichtige Textstellen ergänzt werden. Schließlich wird die systematische Funktion jedes Begriffs erklärt. Auch alle von Kant erwähnten Personen werden in Kurzbiografien vorgestellt.
Detektivische Rekonstruktion
Das Lexikon rekonstruiert minutiös die argumentativen Wege Kants. Im Artikel „als ob“ etwa erklärt der Autor in acht Lexikonspalten akribisch die sechs Verwendungsvarianten der Konjunktion bei Kant. Für Grundbegriffe wie „Analytik“ in den drei „Kritiken“ sind es 40 Spalten, die den Leser nur noch staunen lassen über die filigrane Akkuratesse und Differenziertheit von Kants Denken.
Während sich die Artikel zu Kants Terminologie an das mit Kant wissenschaftlich befasste Publikum wenden, bieten die Artikel über seine Schriften einen Überblick für jeden philosophisch interessierten Leser. Auch über Skurriles informiert das Werk – etwa über „Hexen“, „Ehe“, „Fleischeslust“ oder „Trunkenheit“.
Verglichen mit Eislers Lexikon ist das neue Kant-Lexikon nicht nur viel umfangreicher, sondern auch präziser und im Einzelnen kompakter. Für die Definition des zentralen Begriffspaars „a priori/a posteriori“ braucht das neue Lexikon nur wenige Zeilen und stellt dann in zwei Spalten die komplexe systematische Funktion des Begriffspaars dar. Eislers Aneinanderreihung von Kant-Zitaten und -Paraphrasen fehlt dieser systematische Zugriff oft, dafür nutzt Eisler die unerhörte Prägnanz von Kants Diktion virtuos.
Wo bleibt der Frieden?
Sein Artikel „Adel“ beginnt mit dem Kant-Zitat: „Ein angeerbter Adel, ein Rang, der dem Verdienste vorhergeht und dieses auch mit keinem Grund hoffen lässt“, ist „ein Gedankending, ohne alle Realität“. Das neue Lexikon vermeidet solche Fanalsätze, seine Stärke liegt in der Darlegung der systematischen Bedeutung der Begriffe.
Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795) gehört zu den bis heute am breitesten rezipierten Werken. Deren eminente Wirkung und Bedeutung kommt im neuen Kant-Lexikon etwas zu kurz. Eisler schrieb mitten im Krieg und versteckte im Artikel „Krieg“ seine an Kant orientierte These, wonach „nicht das Staatsoberhaupt, sondern das Volk, dem der Krieg selbst die Kosten verursacht, die entscheidende Stimme habe“ (Eisler).
Wäre sein Lexikon 1916 und nicht erst 1930 erschienen, wäre das Pionierwerk der Militärzensur anheimgefallen. Das neue Kant-Lexikon ist eine wissenschaftliche und editorische Spitzenleistung. Weltweit werden Philosophen die Kant-Forscher um dieses Werkzeug beneiden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachtcafé für Obdachlose
Störende Armut
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus