Neues Elektronikalbum von Jessy Lanza: Dancefloor mit doppeltem Boden
Die Musik der kanadischen Elektronikproduzentin Jessy Lanza ist ambivalent, aber sexy. Ihr Album „Love Hallucination“ ist ihr bisher persönlichstes.
Auf dem Cover ihres neuen Albums „Love Hallucination“ ist die kanadische Elektronikproduzentin Jessy Lanza halb verdeckt hinter einer Palmenkrone zu sehen. Den Blick in die Ferne gerichtet, steht sie auf einem gelben Gerüst, im Hintergrund blauer Himmel und eine bewaldete Hügelkette.
Der Kontrast zwischen der als paradiesisch aufgeladenen, aber nicht weiter definierten Landschaft und ihrer sichtbaren Inszenierung in Form einer Metallkonstruktion ist ein passendes Bild für jenen Stil, den Jessy Lanza in den letzten Jahren zur Perfektion gebracht hat. Ihre geschliffenen, von House, R&B und Soul beeinflussten Popsongs drängen schnurstracks auf die Tanzfläche, offenbaren aber beim genaueren Hinhören oft eine zuckersüß verpackte Abgründigkeit.
Für „Love Hallucination“, ihr inzwischen viertes Album, tritt Lanza als handwerklich versierte Produzentin auf den Plan, die scheinbar mühelos Hook an Hook reiht und dabei kleine Störelemente herumstehen lässt, wie Baugerüste im Tropenparadies. Der Auftakttrack, „Don’t Leave Me Now“, zugleich sommerfestivaltauglich als Vorab-Single ausgekoppelt, steht stellvertretend für diese Ambivalenz.
„Don’t leave, don’t leave me now“ fleht ein zerlegtes Stimmen-Sample über einem hektischen Beat, ehe Lanza in der ersten Strophe Bilder von Autos und Straßen heraufbeschwört, die so gar nicht zum soulful-flirtenden Refrain passen wollen.
Jessy Lanza: „Love Hallucination“ (Hyperdub/Cargo)
Im Song geht es um die Angst, von einem Auto überfahren zu werden; dass eine Nahtoderfahrung verarbeitet wird, hat auf die gutgelaunte Vitalität der Musik aber keine Auswirkung. Der scheinbare Gegensatz zwischen lasziver Intonation und inhaltlichem Unbehagen ist ein Markenzeichen Lanzas und wohl einer der Gründe für ihren Status als ewiger Kritikerliebling, der in einer perfekten Popwelt viel bekannter sein müsste.
Zwischen Unbeholfenheit und Ekstase schwankend
Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang noch einmal das großartige Video zu „Lick in Heaven“ von Lanzas letztem regulären Album „All the Time“ (2020) anzuschauen. In einer fiktionalen Morgensendung aus ihrem kanadischen Heimatstaat Ontario gibt Lanza darin die am Bühnenrand platzierte Alleinunterhalterin, zu der das Studiopublikum zwischen Unbeholfenheit und Ekstase schwankend tanzen muss.
Auch dieser Song ist ein brillanter, an 80er-Jahre-R&B-Diven wie Paula Abdul und Janet Jackson geschulter Hit – dreht sich aber inhaltlich um unkontrollierbare Wutausbrüche.
Am unmittelbarsten verhandelt die Musik des neuen Albums solche Widersprüche zwischen Form und Inhalt im drastisch betitelten „I Hate Myself“. An dessen Beginn steht ein dräuender Ton, der schließlich wegschlingert und sich unvermittelt in einen halluzinatorischen Tropical-Beat mit schwebenden Synthie-Flächen und gemütlicher Bassline auflöst. „I hate myself“, wiederholt die 38-Jährige immer wieder in der Gesangslinie und hustet im Refrain ein sarkastisches „You’re so cool“.
Der an misanthropische Grunge-Hymnen der 90er Jahre erinnernde Text verleiht der sanften Musik eine unheimliche Note, und auch Lanzas Stimme kommt hier mit einer ansonsten bei ihr selten zu hörenden Wertung daher. So subtil solche Einfärbungen auch sein mögen, lassen sie „Love Hallucination“ als das bisher persönlichste Album der Musikerin erscheinen. Ursprünglich hatte sie die elf darauf enthaltenen Tracks für andere Interpret:Innen komponiert, entschied sich aber während der Produktion dafür, sie doch selbst zu veröffentlichen.
Ätherische Vocals und Hochglanzproduktion
Für ihre gemeinsam mit dem ebenfalls aus Kanada stammenden Synthpop-Produzenten Jeremy Greenspan produzierte Mischung aus House, R&B und 90er-Jahre-Soul wurde Lanza schon bei Erscheinen ihres Debütalbums „Pull My Hair Back“ (2013) als großes Talent einer neuen Generation von Solistinnen gehandelt, die ätherische Vocals mit Hochglanzproduktion und für den Club gedachten Beats verbanden. Das Album erschien beim renommierten Londoner Elektroniklabel Hyperdub, mit dem Lanza seit Beginn ihrer Karriere verbunden ist.
Seinen Ursprüngen in der englischen Dubstep-Szene längst entwachsen, ist Hyperdub für seine experimentellen elektronischen Veröffentlichungen von Künstlerinnen und Künstlern wie Fatima Al Qadiri, Burial und Laurel Halo bekannt. Für den großen Popwurf anscheinend zu eigenwillig, nimmt Lanza mit ihrer R&B-Affinität innerhalb des Hyperdub-Label-Portfolios eine wiederum umgekehrte Randposition ein. In ihren Alben lässt sich eine musikalische Entwicklung nachverfolgen, die von den verhallteren Anfängen bis zum aktuellen direkten Sound reicht.
Die lange Form war Lanzas Sache nie, und auf „Love Hallucination“ erreichen nur noch zwei Tracks überhaupt die Vier-Minuten-Marke. In dieser Dichte knüpft das Album an Lanzas Beitrag zur populären „DJ-Kicks“-Reihe an. 2021 remixte sie dafür House und Techno-Tracks zum energischen Set, auch das geradlinige „Drive“ vom neuen Album würde gut dazu passen.
Auf Albumlänge wird „Love Hallucination“ seinem Titel gerecht und fügt sich nahtlos in Lanzas musikalisches Universum ein, dessen federleichte, sinnliche Ästhetik immer wieder ins Nebulöse kippt. In den Details jedoch verstecken sich zahllose schlaue Genreanspielungen, Soundspielereien und harmonische Überraschungen, die die studierte Jazzmusikerin wie beiläufig einstreut.
Analoge Klangerzeuger und klassisches Songwriting
Aufgewachsen in einem musikalischen Elternhaus in der Industriestadt Hamilton, erbte Lanza Synthesizer und Drumcomputer ihres Vaters und kombiniert seither ihre Leidenschaft für R&B mit ihrer Begeisterung für analoge Klangerzeuger und klassisches Songwriting.
Da ist etwa das frickelige „Big Pink Rose“, das seine stolpernde Rhythmik mit einem warmen Synthesizerbad tarnt und es schafft, zugleich nostalgisch und amtlich zu klingen. „I don’t want wanna go outsid / No no I don’t wanna do that“, singt Lanza dazu mit fast kindlich wirkendem Timbre. Themen wie Selbstbeherrschung und gezügelter Groll („on and on I wanna scream“) werden auch hier wieder angedeutet, ohne dass Lanzas kontrollierte Haltung davon beeinflusst würde.
Überhaupt wirken ihre Anspielungen auf negative Emotionen nie als Verbitterung oder plakativer Leidensdruck. Das zusammen mit Jacques Greene produzierte Beziehungsdrama „Midnight Ontario“ etwa kommt als wattierter Neo-Soulsong daher. Über seinen 2-Step-Breakbeat kippt Lanzas Stimme immer wieder ins Falsett. Komplex und tanzbar zugleich ist „Don’t Cry on My Pillow“, eine erneute Zusammenarbeit mit Jeremy Greenspan.
Flimmernde Synthesizern über basslastigem Beat
Zu guter Letzt enthält das Album mit „Limbo“ einen faustdicken Sommerhit für die erwähnte perfekte Popwelt, in der sich Sängerinnen hinter Bäumen verstecken oder gar wütend sein dürfen. Sein Sound beginnt im besten Lanza-Stil mit einer einprägsamen Gesangsmelodie und flimmernden Synthesizern über einem basslastigen Beat, ehe daraus plötzlich eine Diskonummer mit Funk-Basslinie und Ohrwurm-Refrain wird.
Das dazugehörige Video verzichtet – auch da bleibt Lanza sich treu – auf alle visuellen Klischees, die sich beim Hören aufdrängen. Zu sehen ist eine statische Aufnahme von Lanzas Nachbar Conrad, der im Fetisch-Outfit vor seiner Webcam turnt und damit, so die Produzentin selbst, die Themen des Tracks perfekt verkörpert. Jessy Lanza erzählt von Schwebezuständen, von eigenen Unklarheiten und inneren Kämpfen und schlägt musikalisch eine andere, optimistischere Lesart vor.
Wie der Tänzer am Ende aus dem Bild krabbelt und das leere Zimmer mit Kaminfeuer- und Ikea-Gemütlichkeit zurücklässt, lässt wieder an Lanza auf dem Gerüst in der Palme denken. Ihr doppelbödiges Spiel mit romantischen Bildern und ihrer gleichzeitigen sanften Demontage wird auf „Love Hallucination“ zu einem so souveränen wie persönlichen Popentwurf erhoben, zu dem man – und das ist das Beste – auch noch tanzen kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!