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Neues Dokumentationszentrum in ChemnitzPilotprojekt für das NSU-Gedenken

In Chemnitz erinnert ein neues Dokumentationszentrum an den rechten Terror. Pläne für einen bundesweiten Gedenkort nutzte die Union als Verhandlungsmasse.

Gedenk- und Bildungsstätte: Die Ausstellung in Chemnitz soll die Erinnerung an die NSU-Opfer wachhalten Foto: Sebastian Willnow/dpa

Chemnitz/Berlin taz | Eine Stunde nach der Eröffnung steht immer noch eine lange Schlange vor dem neuen NSU-Dokumentationszentrum in Chemnitz. Es ist eine Premiere: Zentral in einem ehemaligen Möbelladen zwischen dem historischen Kaufhaus Tietz und dem Roten Turm untergebracht, soll die Ausstellung an den Terror des Nationalsozialistischen Untergrund erinnern. Dessen rechtsextreme Mitglieder ermordeten in den Jahren von 2000 bis 2011 insgesamt 10 Menschen und verletzten viele weitere teils schwer.

Chemnitz diente der Dreiergruppe unter anderem als Rückzugs- und Planungsort für ihre Morde, denen mit einer Ausnahme nur Menschen mit Migrationshintergrund zum Opfer fielen. Die Sicherheitsbehörden wollen von dem Treiben jahrelang nichts mitbekommen haben, teils wurden die Angehörigen der Opfer selbst verdächtigt, etwas mit den Attentaten zu tun zu haben. In der Presse konnte man derweil von den „Dönermorden“ lesen.

Das Zentrum in Chemnitz soll mehr sein als ein Museum für das Versagen deutscher Behörden und Gesellschaft: ein offizieller Gedenkort, eine Dokumentation der rechten Gewalt, ein Aufarbeitungsprojekt und ein Symbol. Maßgeblich vorangetrieben wurde es vom Chemnitzer Verein ASA-FF, der Opferberatungsstelle RAA und der Initiative „Offene Gesellschaft“. Die Stadt, das Land Sachsen und der Bund tragen gemeinsam die Kosten von rund vier Millionen Euro.

Während der zweistündigen Eröffnungsveranstaltung am Sonntag erklärt der Geschäftsführer von „Offene Gesellschaft“, Max Bohm, die Absicht, „deutscher Erinnerungskultur ein Kapitel hinzufügen zu wollen, um solche Taten künftig zu verhindern“. Abdulla Özkan, Überlebender des Nagelbombenanschlags des NSU 2004 in Köln, sagt: „Wir werden gehört, zumindest hier.“ Das Zentrum sei wichtig für alle betroffenen Familien. „Wir kämpfen noch immer für Anerkennung, oft bleiben wir allein“, so Özkan. Dieser Ort in Chemnitz sei nicht nur ein Mahnmal, sondern auch ein „Auftrag für die Zukunft“. Und Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, betont, wie wichtig es sei, jüngere Menschen zu erreichen, die mit dem Kürzel NSU kaum noch etwas anfangen könnten.

Auffallend ist, wer nicht spricht: Michael Kretschmer, Sachsens CDU-Ministerpräsident, ist nicht nach Chemnitz gekommen. Er weiht zeitgleich eine Bundesstraße ein.

Landespolitik bleibt Eröffnung fern

Einige Stunden nach der Eröffnungszeremonie darf dann erstmals die Öffentlichkeit in die Ausstellung. Deren Gerüst sind Exponate aus der Wanderausstellung „Offener Prozess“, die schon die letzten Jahre durch die Bundesrepublik tourte. Darunter sind viele persönliche Gegenstände der Opfer und Überlebenden. Etwa die Armbanduhr des NSU-Opfers Mehmet Kubaşık, die zum Todeszeitpunkt stehenblieb. Er wurde 2006 in Dortmund vom NSU ermordet.

Be­su­che­r*in­nen können zahlreiche audiovisuell aufbereitete und illustrierte Zeugenaussagen aus dem Prozess gegen das einzige überlebende NSU-Mitglied, Beate Zschäpe, verfolgen. Oder die Statistik wirken lassen, wonach allein in Sachsen seit 1990 rechter Terror 20 Todesopfer forderte und die Staatsregierung 58.500 Euro einsetzte, um das letzte NSU-Domizil in Zwickau abzureißen, damit hier kein Wallfahrtsort entstehen konnte.

Didaktisch ist dieses interaktive und elektronisch unterstützte Dokuzentrum auf dem neuesten Stand. Einladende Räume für Gespräche und Sozialkontakte bietet es auch. Letztlich bleiben die auf Plakaten formulierten Fragen: Warum hat der Staat die Morde nicht verhindert? Warum ist über die Unterstützernetzwerke so wenig bekannt? Was wusste der Verfassungsschutz? Schließlich: „Kein Schlussstrich!“ Sachsen bewege sich seit 2019 „zwischen Aufarbeitung, Stagnation und Resignation“, stellt eine Tafel fest.

Plötzlich Nürnberg?

Chemnitz ist weiter eine rechte Hochburg, die AfD bekommt hier Wahlergebnisse von über 30 Prozent. Auch deswegen reicht vielen der Angehörigen und Überlebenden das Projekt in Chemnitz nicht. Sie wollen zum Gedenken nicht in eine Stadt kommen müssen, in der sich viele von ihnen weiter bedroht fühlen. Doch bei den Plänen für ein großes, bundesweites Dokumentationszentrum lief es zuletzt schlecht.

Zwar hatte die Ampel das Vorhaben einst in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben und das Bundesinnenministerium unter Nancy Faeser (SPD) legte auch noch eine Machbarkeitsstudie vor. Der Gesetzentwurf, der den Aufbau des Zentrums samt Stiftung in Berlin vorsah, kam dann aber so spät, dass er am Bruch der Ampel im Herbst 2024 scheiterte.

Im Koalitionsvertrag der neuen schwarz-roten Bundesregierung hieß es dann plötzlich: „Wir schaffen ein NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg.“ Dabei hatten die Angehörigen und überlebenden Opfer stets auf Berlin als Standort gedrängt. Die Hauptstadt versprach Symbolik, bundesweite Strahlkraft und zahlreiche Besucher*innen, seien es die Reisegruppen aus den Wahlkreisen der Bundestagsabgeordneten, Klassenfahrten oder Tou­ris­t*in­nen aus dem Ausland. Jetzt soll es stattdessen eine mittelgroße Stadt in Mittelfranken werden. Was ist passiert?

Wer sich im Bundestag umhört, bekommt erst einmal zu hören, dass Nürnberg doch ein hervorragender Standort sei. Der erste parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Dirk Wiese, sagt der taz: „Für den Standort Nürnberg sprechen gute Gründe: Zum einen wurden zwei schreckliche NSU-Morde, darunter der erste, dort begangen. Zum anderen hat Nürnberg bereits eine etablierte Kultur des Erinnerns an die NS-Zeit.“ Und die Vize-Fraktionsvorsitzende der Grünen, Misbah Khan, sagt, es sei „erstmal positiv zu bewerten, dass sich die neue Regierungskoalition weiterhin zu dieser Verantwortung bekennt und die Umsetzung eines NSU-Dokumentationszentrums voranbringen möchte.“

Söder setzte sich wohl durch

Sogar die Ombudsfrau der Angehörigen und Hinterbliebenen Barbara John sagt, es mache keinen Sinn, sich über den neuen Standort zu empören, es gelte stattdessen, nach vorn zu schauen. „Jetzt, wo es die Entscheidung für Nürnberg gibt, muss alles dafür getan werden, dass dort die Wünsche der Angehörigen berücksichtigt werden und sie in die Planung einbezogen werden.“

In all diesen Wortmeldungen schwingt mit: „Besser in Nürnberg als gar nicht.“ Denn offenbar stand das Projekt in den Koalitionsverhandlungen ganz auf der Kippe. In einem geleakten Zwischenpapier aus den Koalitionsverhandlungen ist der Satz „Wir schaffen ein NSU-Dokumentationszentrum“ als ungeeinte SPD-Forderung markiert. Der Punkt war also zwischen den Ver­hand­le­r*in­nen umstritten, die Union nutzte das Gedenken an die NSU-Opfer als Verhandlungsmasse, mutmaßlich um an anderen Stellen eigene Forderungen zu erkaufen.

Es waren offenbar Bayerns Ministerpräsident Markus Söder und CSU-Lokalpolitiker*innen, die mit der Festlegung auf Nürnberg dann eine Lösung präsentieren konnten, auf die die SPD sich einließ. Für Söder und seine Par­tei­freun­d*in­nen ein Erfolg, mit dem Zentrum dürfte auch viel Geld und Aufmerksamkeit nach Nürnberg kommen. Auf Anfrage will sich bei der Stadt Nürnberg niemand dazu äußern.

Während SPD, Grüne und sogar Ombudsfrau John erleichtert scheinen, dass überhaupt ein Kompromiss gefunden wurde, gibt es durchaus auch kritische Stimmen. Gamze Kubaşık, Tochter des vom NSU ermordeten Mehmet Kubaşık, sagt der taz: „Es war enttäuschend, zu sehen, wie um ein so zentrales Projekt verhandelt wurde, als ginge es um eine politische Verhandlungsmasse.“ Und weiter: „Dass man da überhaupt diskutieren musste, ist schwer zu verstehen.“ Die Entscheidung für Nürnberg könne sie zwar auch nachvollziehen, doch „Berlin hätte als Hauptstadt vielleicht die notwendige bundesweite Sichtbarkeit garantiert“.

Auch die Linken-Bundestagsabgeordnete Clara Bünger ist nicht begeistert von Nürnberg als Standort. Der taz sagt sie: „Ein solcher Ort gehört dahin, wo politische Verantwortung übernommen werden muss – nach Berlin.“ Nürnberg als Standort sei „ein Affront“. Und: „Wer es ernst meint mit Erinnerung, muss zuhören. Alles andere ist Gedenkpolitik über die Köpfe der Betroffenen hinweg.“

Doch in Nürnberg werden offenbar schon erste konkrete Pläne gemacht, auch wenn das nötige Gesetz für eine Trägerstiftung noch auf sich warten lassen dürfte. In der Stadtverwaltung soll es bereits eine erste Idee für ein Gebäude geben, in das der Dokumentations- und Gedenkort ziehen könnte.

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