Neues Buch von Philosophin Charim: Die Qualen des Narzissmus
Wie kommt es, dass „die Menschen für ihre Knechtschaft kämpfen, als sei es für ihr Heil“? Isolde Charim stellt die Frage neu. Auszüge aus ihrem Buch.
Ausgangspunkt ist ein altes Erstaunen: Warum sind wir mit dem Bestehenden einverstanden? Ob dieses uns zum Vorteil gereicht oder nicht. Wir mögen hie und da murren – aber im Großen und Ganzen willigen wir in die Verhältnisse ein. Freiwillig. Woher rührt diese Freiwilligkeit?
Im Jahr 1546 oder 1548 hat der französische Autor Etienne de La Boétie eine „Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft“ geschrieben. Er hat damit eine vielzitierte Formel geprägt, die die Freiwilligkeit mit der Knechtschaft verbindet: die paradoxe Mischung eines freiwilligen Zwangsverhältnisses.
La Boéties Paradoxon ist ein ebenso anhaltendes wie veränderbares Phänomen. Anhaltend ist es, weil wir auch heute noch in freiwilligen Zwangsverhältnissen leben. Veränderbar aber ist es, weil sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen auch das verändert, was freiwilliges Unterordnen jeweils ist.
Der Text ist aus dem Buch „Die Qualen des Narzissmus“ (Zsolnay Verlag, Wien 2022, 224 S., 24 Euro), das am 26. September erschienen ist.
So geht es heute nicht um freiwillige Knechtschaft, sondern um freiwillige Unterwerfung. Ein wichtiger Unterschied. Denn der Unterworfene ist nicht der Knecht eines Herrn – er fügt sich vielmehr in die Verhältnisse. Er fügt sich ein. Im Unterschied zur Knechtschaft ist dies eine Unterwerfung, die sich selbst nicht als eine solche versteht. Sie wird vielmehr als Einverständnis erlebt – als Einverständnis mit dem Bestehenden, als Akzeptanz der Gesellschaftsordnung. Mehr noch. Die Freiwilligkeit dieses verkappten Zwangsverhältnisses erscheint als ihr Gegenteil: Eine Unterwerfung, die als Ermächtigung erlebt wird. Die Wirkmächtigkeit solcher freiwilligen Unterwerfung kann gar nicht überschätzt werden. Denn diese ist die weitreichendste, effizienteste Form, wie eine bestehende Ordnung, wie bestehende Verhältnisse gestützt, getragen, perpetuiert werden. Mit und gegen die eigenen Interessen.
Das Geheimnis der freiwilligen Unterwerfung, das Geheimnis ihrer ungeheuren Wirksamkeit ist: Sie ist das, was jeden von uns von alleine funktionieren lässt.
Was aber ist es, das uns heute von alleine funktionieren lässt?
Die These lautet: Die vorherrschende Anrufung, der wir heute folgen, ist der Narzissmus. Eine andere Formulierung dafür wäre: Narzissmus ist die Art, wie wir uns heute freiwillig unterwerfen.
Narzissmus und Konkurrenz
Nehmen wir den Wettbewerb als zentralen gesellschaftlichen Mechanismus. Jener Mechanismus, der eine absolute Verallgemeinerung, eine grenzenlose Ausdehnung, eine rückhaltlose Entgrenzung auf alle gesellschaftlichen Bereiche erfahren hat.
Es zeugt von einer gewissen Paradoxie, die gesuchte, neue Veränderung ausgerechnet am Wettbewerb festzumachen. Hatte Karl Marx doch schon vor über 150 Jahren festgestellt, dass Konkurrenz die ureigenste Form sei, in der sich kapitalistische Produktionsverhältnisse vollziehen. Anders gesagt: Die Veränderung kann also nicht einfach in der Konkurrenz als solcher bestehen – in welcher Ausweitung auch immer. Sie muss vielmehr in einer besonderen Bestimmung bestehen, die dieser zentrale Mechanismus erfahren hat.
Eine solche ist der Narzissmus. Wie findet dieser Eingang in den Wettbewerb?
Das bewirken alle Formen von Rankings, Ratings, Evaluierungen. Diese bilden Rangordnungen, hierarchische Strukturen. Durch und in Rankings werden Platzierungen auf einer nach oben hin offenen Narzissmus-Skala vorgegeben und zugewiesen.
Zuordnungen im Gerüchte-Ranking
Es ist dieses System, es sind diese Werthierarchien, die den Wettbewerb verändern. Dieser wird durch narzisstische Kriterien überformt. Die Rankings zeigen an, bewerten, wie viel Anteil man am narzisstischen Ideal hat. Oder besser gesagt: wie viel man einem zuspricht. Denn es geht um Zuordnungen im Gerüchte-Ranking: also um subjektive Einschätzungen, die sich zu objektiven Urteilen verfestigen. All dies bildet eine objektive Ordnung für die subjektive Bewertung. All dies bildet das paradoxe Phänomen eines objektiven Narzissmus. Dieser ist vom subjektiven Narzissmus zu unterscheiden.
Objektiver Narzissmus wird von außen zugesprochen: Die Rangordnungen, die Feedbacks zeigen dem Einzelnen an, welchen Platz er in der Mythenordnung einnimmt. Während der subjektive Narzissmus über die eigene Suche nach dem Ich-Ideal funktioniert.
Strebt der subjektive Narzissmus stets – und stets unbefriedigt – nach diesem Ideal, also nach seiner Erfüllung, so geht es dem objektiven Narzissmus des Wettbewerbs keineswegs darum, dass das Subjekt eine narzisstische Befriedigung erfährt. Oder höchstens als Versprechen, als Indienstnahme des Strebens, als idealer Antrieb. Anders gesagt: dem subjektiven Narzissmus ist das narzisstische Ideal Ziel und Zweck – während es dem objektiven Narzissmus nur als Mittel dient. Ein Mittel, das stets auch Drohung und Waffe ist.
Wie aber kann der objektive Narzissmus den subjektiven Narzissmus in Dienst nehmen?
Durch eine falsche Gleichung, die besagt: Der erste Platz im Ranking, der Höchststand in der Evaluierung entspreche tatsächlich dem narzisstischen Ideal-Ich. Der erste Platz sei tatsächlich gleichbedeutend mit dem Status des Einzigartigen – ein Begriff, den wir von Andreas Reckwitz übernehmen. Im Gegensatz zu diesem verstehen wir Einzigartigkeit aber als Mythos. Als Mythos eines Jenseits der Konkurrenz – eines sehr irdischen Jenseits, das einen von den Qualen der Konkurrenz erlösen soll. Es ist das Versprechen eines Refugiums fürs Individuum – geborgen aus dem unendlichen Wettbewerb, gerettet aus der gnadenlosen Konkurrenz. Wir haben hier nichts weniger als eine dialektische Volte: Die restlose Konkurrenz wird im Prinzip des Einzigartigen mythisiert. Den Wettbewerb hinter sich lassen – das stellt den Höhepunkt des Wettbewerbs dar.
Druck und Antrieb in einem
Diese Verheißung der Rangordnung, dass man ihr an der Spitze entkommt, diese Mythisierung des ersten Platzes – dieses „Angebot“ weckt und befördert den subjektiven narzisstischen Wunsch. Den Wunsch, der Beste und damit einzigartig zu sein. Und die Rankings, die Evaluierungen – als Vorgabe, als Kontrolle – bedürfen ebendieses Wunsches.
Der objektive Narzissmus lebt also von mehreren Als-obs: vom Als-ob der Einzigartigkeit. Und vom Als-ob der Entsprechung: als ob die vorgegebenen Plätze tatsächlich die gesellschaftliche Erfüllung des Narzissmus wären. Nur wenn er dies glaubhaft machen kann, kann er den subjektiven Narzissmus anzapfen. Nur so kann der objektive Narzissmus der Wettbewerbsordnung am subjektiven Narzissmus des Einzelnen parasitieren. Denn nur dann wird das narzisstische Begehren zum Wunsch, die vorgegebenen Plätze in den Rankings einzunehmen. Über den ökonomischen Druck hinaus. Nur dann ist er Druck und Antrieb in einem.
Solcherart bildet er einen neuen Heliotropismus – einen narzisstischen Heliotropismus, der alle an der Sonne des Narzissmus, am Ich-Ideal, an der Einzigartigkeit ausrichtet. Aber diese Sonne ist imaginär. Und gerade weil dieses Ziel ein Mythos – der Mythos des Wettbewerbs – ist, gerade deshalb führt dies zu einem notwendigen, zu einem strukturellen Scheitern.
Es ist dies aber nur ein notwendiges Scheitern für den subjektiven Narzissmus – nicht für den objektiven. Letzterem dient der Narzissmus ja nur als Mittel. Dessen Ziel ist nicht die Erfüllung der Verheißung, nicht die Realisierung der Einzigartigkeit. Dessen Ziel ist es ja, die Konkurrenz anzutreiben, den Wettbewerb zu steigern, den Kapitalismus weiter zu entfalten.
Versprechen der Einzigartigkeit
Dieses Scheitern zeigt, dass die in Aussicht gestellte Überschneidung von objektivem und subjektivem Narzissmus, die sich im Erfolg treffen sollen, – also die Deckung von Wunsch und Anforderung – nur partiell und punktuell ist. Und trotzdem erzeugt ebendies eine Verstrickung, der man sich nur schwer entziehen kann.
Denn der narzisstische Ruf treibt ja die Individuen im Wettbewerb an durch die Aussicht, diesem zu entgehen. Er treibt sie an durch das Versprechen der Einzigartigkeit. Als ob der Wettbewerb zu jenem rettenden Hafen werden könnte, der uns vor dem schützt, was der Wettbewerb tatsächlich bedeutet: die völlige Austauschbarkeit jedes Einzelnen. Von ihm erhoffen wir Heil. Als ob der Wettbewerb uns bergen könnte aus der Gefahr, die er selbst bedeutet – und uns jene Geborgenheit geben könnte, die er selbst verhindert.
Tatsächlich aber erzeugt gerade der Wettbewerb, der das in Aussicht stellt, zweierlei: Er steigert den Narzissmus – und er verhindert zugleich dessen Erfüllung.
Kurzum – der Mythos der Einzigartigkeit, der Mythos der narzisstischen Anrufung, ist unser heutiges Gegenprinzip. Das imaginäre Gegenprinzip zur allgemeinen Austauschbarkeit in den realen Verhältnissen. Einzigartigkeit ist die Form, in der wir die allgemeine Austauschbarkeit leben. Einzigartigkeit ist das paradoxe Gegenprinzip, das uns antreibt. Das uns dazu bringt, „von alleine“ zu funktionieren – das heißt freiwillig. Das Gegenprinzip, dem wir uns unterwerfen – indem wir die Erwartungen erfüllen, den Anforderungen zu genügen versuchen. Ganz von alleine. Im Modus des Selbstantriebs. Der Mythos der Einzigartigkeit, den der objektive Narzissmus befördert, erzeugt unsere freiwillige Unterwerfung.
So kämpfen wir Gegenwärtigen „für unsere Knechtschaft, als sei es für unser Heil“!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen