Neues Buch von Chantal Mouffe: Ankommen im Sozialdemokratischen
Eine Art Revisionismus: Die linke Theoretikerin fremdelt in „Agnostik“ erfrischend offen mit der zeitgenössischen radikalen Linken.
Chantal Mouffe ist in der akademischen, unorthodoxen, radikalen und kunstaffinen Linken, in der man das elementare Dagegensein hochhält und mit normaler Politik – notabene Parteipolitik – schon aus Lebensstilgründen nichts zu tun haben will, seit Jahren schon eine große Nummer. Bedenkt man, wie schnell man in den Augen dieser Blase vom guten Radikalen zum bösen reformistischen Verräter werden kann, ist es erstaunlich, nein: regelrecht mutig, wie Mouffe in ihrem neuesten Buch gegen den Common Sense dieses Juste Milieu anschreibt.
„Agonistik“ markiert zwar keine Wende in Mouffes Denken, aber doch ein Ankommen im Sozialdemokratischen (jetzt nicht im Parteisinn, aber im Ideensinn). Jenen, die einen horizontalen, antiinstitutionellen Aktivismus einer „Multitude“ hochhalten und die Repräsentationsmodelle der „alten Linken“ kritisieren, sagt sie: „Was wir infrage stellen müssen, ist nicht die Idee der Repräsentation an sich, sondern der Mangel an Alternativen, die den Bürgern angeboten werden.“
Die Energien von Bewegungen wie Occupy oder den spanischen Indignados drohen zu verpuffen, wenn sie sich gegen jede institutionalisierte Politik richten und unfähig bleiben, realpolitische Bündnisse einzugehen: „Um die neoliberale Hegemonie allerdings wirkungsvoll anzugreifen, ist es entscheidend, die zum Vorschein gekommene Energie nicht in die falschen Bahnen zu lenken. Meine Befürchtung ist, dass genau das passieren könnte.“
Mouffe spinnt in den sechs Aufsätzen ihres neuen Buchs die Fäden weiter, die sie seit nunmehr beinahe zwei Jahrzehnten, nicht zuletzt in ihren jüngsten Büchern „Über das Politische“ und „Das demokratische Paradox“ knüpft. Deren Grundthese lautet: Zu viel Konsens schafft Konflikt. Konsens, der den Konfliktcharakter des Politischen leugnet, ein neoliberal angekränkeltes Einheitsdenken (etwa in Gestalt des Blair’schen „Dritten Wegs“ oder der Schröder’schen „Neuen Mitte“), führt nicht zum Konsens, sondern öffnet Raum für Politikverdrossenheit oder rechtspopulistische Revolten. Gehegter Konflikt dagegen hält die Politik lebendig. Demokratische Politik muss demnach den Mittelweg zwischen Konsens und antagonistisch zugespitztem Konflikt finden.
Chantal Mouffe: „Agonistik. Die Welt politisch denken“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 214 Seiten, 16 Euro
Herausforderung der neoliberalen Hegemonie
Die neoliberale Hegemonie gilt es aber nicht nur zu dekonstruieren, sondern tatsächlich herauszufordern: in Form eines neuen Projekts, das seinerseits zum Ziel hat, die Hegemonie zu erobern. Die Entfremdung von der EU gehe beispielsweise „auf das Fehlen eines Projekts zurück, das unter den europäischen Bürgern ein starkes Identitätsgefühl entstehen lassen und ein Ziel darstellen könnte, das ihre politischen Leidenschaften in demokratische Bahnen lenkt“.
Scheidung als Drama? Im Gegenteil, sie kann Kinder selbstständiger machen, sagt Scheidungsforscher Ulrich Schmidt-Denter. Wie der Wissenschaftler sämtliche Scheidungsklischees zerlegt, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 12./13. Juli 2014. Außerdem: Warum der Sparzwang der Kassen neue Schmuggelpfade für die Pillenmafia schafft. Und: 75 Euro weniger fürs neue Topfset! Wir bringen Ihnen bei, wie man auch im Kaufhaus erfolgreich feilscht. Dazu natürlich: Jogi gegen Messi in der taz.brasil. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Wie aber könnte ein neues hegemoniales Projekt entwickelt werden? Sicher nicht, indem man den „hegemonialen“ Institutionen den Rücken kehrt und aus dem Staat „auswandert“, in eine innere Gegenwelt der Basisbewegungen. Weite Strecken des Buchs wenden sich daher gegen die antipolitischen Affekte der zeitgenössischen Linken. Die neuen Netzwerke von „Bewegungen ohne Anführer“ haben schon ihre Meriten, aber jenseits der romantischen Verklärung sollte man sich langsam doch der Frage stellen, warum sie stets vollkommen erfolgs- und folgenlos versanden.
Suche nach radikaler Reformpolitik
Ambitionierte, radikale Reformpolitik müsse daher, so Mouffe, auf neue Formen von Bündnissen setzen, von Parteien, Institutionen, Leuten in den Medien, Bewegungen, Zivilgesellschaft oder Gewerkschaften. Antiinstitutionelles Sektierertum tut für solche Bündnisse aber nichts – es erschwert sie nur. Mouffe: „Für eine tatsächliche Veränderung der Machtverhältnisse bedarf es institutioneller Bahnen.“
So grundsätzlich bedenkenswert Mouffes Thesen sind, so vage bleiben sie oft. Wie wir zu einem antineoliberalen Projekt für EU-Europa kommen können, wird kaum angedeutet. Mouffes Lieblingsbeispiel für einen neuen sozialreformerischen Block ist Griechenland, mit der linken Syriza-Partei auf der einen Seite und den Basisbewegungen auf der anderen. Nun ist Griechenland nach dem Totalkollaps der klassisch sozialdemokratischen Pasok-Partei aber ein Sonderfall. Ob anderswo die Parteien der traditionellen Sozialdemokratie in ihrem Konzept eine Rolle spielen, darüber verliert die Autorin kein Wort. Das ist nicht gerade eine nebensächliche Frage. Setzt Mouffe auf einen Reformblock, der aus repolitisierter Sozialdemokratie, anderen Linksparteien, Gewerkschaften und Bewegungen besteht? Man kann es nur ahnen.
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