Neues Archiv für Antirassismus: „Wir müssen von uns erzählen“
An antirassistischen Bewegungen waren hierzulande auch nicht-weiße Gruppen beteiligt. Das ist kaum bekannt. Ein neues Archivprojekt möchte das ändern.
taz: Herr Bababoutilabo, Sie sind einer der Initiatoren eines Archivprojekts, das die Geschichte Deutschlands aus der Perspektive der Kämpfe gegen Rassismus erzählen will. Wie kamen Sie dazu?
Vincent Bababoutilabo: Ich bin seit Langem bei der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland aktiv. Als 2020 die Black-Lives-Matter-Bewegung in Deutschland losging, sind bei mir zwei Gefühle aufgekommen: große Freude und große Skepsis.
Worauf bezog sich die Skepsis?
Auf das fehlende Wissen um die Bewegungsgeschichte bei jungen Aktivist:innen, über Spezifika des Rassismus in Deutschland. Das ist sehr weit verbreitet, ich nehme mich selbst nicht aus. Ich bin 34 und es gibt viele Dinge, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Etwa Kino-Stürmungen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes gemeinsam mit der Afrikanischen Studentenunion in den 1960er Jahren, um die Aufführung kolonialrassistischer Filme zu verhindern. Solche Geschichten zu hören, bestärkt. Man sieht, dass man nicht alleine dasteht, sondern auf Dingen aufbaut, die es schon sehr lange gibt.
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Göttingen. Er arbeitet mit am Projekt „Ver/Sammeln antirassistischer Kämpfe“, das ab 2023 online gehen soll.
Das Archiv soll dieses Bewegungswissen leichter verfügbar machen. Was ist genau geplant?
Es gibt einen noch laufenden Dialogprozess zur Aufarbeitung der antirassistischen Bewegungsgeschichte in der BRD und in der DDR. Damit sind vier Community-Koordinator:innen beschäftigt. Ich bin einer davon und unter anderem für Migration und Antirassismus in der DDR zuständig. Wir treten in Kontakt mit Aktivist:innen, Betroffenen von rassistischen Angriffen oder Institutionen, um nach deren Geschichten und politischen Praxen zu fragen.
Wer war das zum Beispiel?
Bestehende Archive, Initiativen aus der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma, aus der Frauenbewegung, aber auch das Berliner Antifa-Archiv Apabiz. Ein wichtiger Bereich sind Privatarchive, etwa von Aktivist:innen wie Garip Bali aus der Türkei. Er ist seit den 1970er Jahren berlinweit politisch aktiv. Zu unserem Treffen kam er mit einer Tüte voller alter Flyer und Plakate aus den 1970er bis 2010er Jahren.
Was haben Sie bei diesen Gesprächen erfahren?
Dass es eine unglaubliche, komplexe Bewegungsgeschichte gibt. Und dass es unter deren Akteuren ein großes Bedürfnis gibt, die eigene Geschichte zu erzählen. Material der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland findet sich teils bereits in Museen. Die Gruppe Tribunal NSU-Komplex auflösen hat enorm wichtiges Filmmaterial gesammelt.
Women in Exile, in der sich geflüchtete Frauen in Brandenburg zusammengeschlossen haben, haben viel Wissen über Kämpfe in den Lagern gesammelt. Wie wird solches Wissen weitergetragen? Klar ist, dass wir selbst von uns erzählen müssen. Wir wollen nicht zentralisieren, sondern das, was es schon gibt, aufarbeiten und vernetzen. Wir wollen die vergangenen 70 Jahre darstellen und suchen dafür nach neuen Wegen der Darstellung.
Was kann eine solche Meta-Perspektive sichtbar machen, was die schon existierenden Sammlungen nicht zeigen?
Sie kann zum Beispiel auch zeigen, wo und warum etwas auseinandergegangen ist. Es ist ja nicht so, als gäbe es eine große Antira-Bewegung, die sich immer einig war. Ich bin auf viele solidarische Momente gestoßen, aber auch auf persönliche Verletzungen. Es gehört zum Rassismus, dass alle unterschiedlich diskriminiert werden. Das macht es auch sehr schwierig, diese Verhältnisse zu überwinden. Dem wollen wir nicht aus dem Weg gehen. Wir wollen uns auch auf Brüche fokussieren, die zur Geschichte dazugehören.
Was für Brüche waren das?
Zum Teil sehr persönliche. Es gibt die Geschichte einer antirassistischen Zeitschrift, die von einem Verein herausgegeben wurde. Irgendwann realisiert der, dass zwei Drittel seines gesamten Geldes in die Produktion der Zeitschrift fließen – und stellt sie ein. Die Zeitschrift hat aber eine gewisse Bekanntheit erreicht. Deshalb entschieden Aktivist:innen, sie privat weiterzutragen.
25 Jahre später wollen nun jüngere Aktivist:innen die Zeitschrift wiederbeleben. Der Streit darum ist regelrecht explodiert. Es war so, dass die Alten die Druckpressen quasi bei sich im Wohnzimmer stehen hatten. Sie haben sich früher teils selbst für die Produktion der Zeitschrift ausgebeutet. Und wollten nicht, dass einfach heute jemand Kapital aus ihrer privaten Arbeit der 1990er schlägt.
Gab es auch politische Bruchlinien, auf die Sie gestoßen sind?
Natürlich. Das Aufkommen der Antideutschen etwa wird da immer wieder benannt. Oder der linke Klassiker – Israel und Palästina.
Was ist mit den Konflikten zwischen weißen und migrantischen antirassistischen Gruppen?
Dass Gruppen als „weiß“ oder als „PoC“ gelabelt wurden – das ist nach meiner Erkenntnis oft erst im Nachhinein passiert. Ich habe mich mit der Antifa Gençlik in Berlin ab den späten 1980er Jahren befasst, die bis heute als „migrantisch“ gilt. Deren Aktivist:innen sagten mir: „Wir haben alle in der gleichen Bar gechillt wie die weißen Antifas, haben uns in Hausprojekten von weißen deutschen Autonomen getroffen.“ Und bei denen waren sehr wohl auch Schwarze dabei. Das gilt ebenso für viele andere Gruppen.
Das Narrativ von der weißen Linken hat so noch nie gestimmt. Wenn man genau hinsieht, sind die nie ganz weiß, auch nicht ideologisch, viel kam aus einem linken Internationalismus heraus. Devrimci Yol etwa, eine linksradikale Bewegung aus der Türkei, hatte starken Einfluss auf Autonome in Westberlin. Diese Gruppen als „weiß“ zu labeln, ist schwierig.
Das klingt nun doch eher nach Eintracht als nach Brüchen.
Die gab es natürlich auch. Antirassistische Initiativen sind auch in Kritik, etwa an der weißen deutschen Frauenbewegung, entstanden, die sich teils nicht gut mit Kritik auseinandergesetzt hat. Ein Beispiel dafür ist die Gruppe Adefra, in der sich ab Mitte der 1980er afrodeutsche Frauen zusammengeschlossen haben.
Was können Sie über Antirassismus in der DDR berichten?
Die SED hatte schon früh behauptet, dass Rassismus ein Phänomen kapitalistischer Staaten ist und mit dem Sozialismus entsprechend aufgehört habe zu existieren. Dann gab es ab den 1970er Jahren Fachkräftemangel. Mit einer Rhetorik internationaler Solidarität wurden Vertragsarbeiter:innen abgeworben. Sie waren einem ganz klaren Kontrollregime unterworfen. Vietnamesische Frauen etwa wurden nach Ankunft gynäkologisch untersucht, danach bekamen sie die Pille. Sie sollten nicht schwanger werden. Passierte es doch, drohte ihnen die Abschiebung. Gewollt war nur ihre Arbeitskraft.
Gab es Widerstand gegen dieses Kontrollregime?
Ja. Mit der Ankunft migrantischer Arbeitskräfte gab es auch mehr Streiks. Die waren nicht verboten, aber auch nicht gern gesehen. Sie wurden sehr häufig durch Abschiebungen beendet. Unter diesen Bedingungen fand in der DDR eine Art Internationalismus von oben statt.
Worin bestand dieser „Internationalismus von oben“?
Außenpolitisch hat die DDR viel Gutes gemacht. Vertreter:innen von Befreiungsbewegungen aus dem Globalen Süden waren oft zu Gast. Die DDR war solidarisch mit dem ANC (African National Congress; Anm. d. Redaktion), anders als die BRD. Das gehört zur Geschichte dazu. In diesen Kontext gehört die unter anderem von Margot Honecker errichtete „Schule der Freundschaft“ (in Staßfurt, Sachsen-Anhalt, Anm. d. Redaktion). Ab 1982 lebten dort insgesamt 1.200 Schüler:innen aus Mosambik und Namibia, die als Facharbeiter:innen ausgebildet werden sollten. Die haben Jungpioniere getroffen, gemeinsam die Internationale gesungen.
Doch vieles, was von Mensch zu Mensch, informell, lief, wurde sanktioniert. Trotzdem entstanden Freundschaften und Liebesbeziehungen, aber die wurden häufig bestraft. Die Schüler:innen sollten hinter den Gittern ihrer Schule bleiben. Die Schule war internationalistisch gedacht, aber sie war ein Kristallisationspunkt des Rassismus in der DDR.
Es gibt heute die „Initiative 12. August“. Die kämpft für das Gedenken an Opfer rassistischer Morde in der DDR. Benannt ist sie nach dem Tag, an dem die beiden kubanischen Vertragsarbeiter Delfin Guerra und Raúl Garcia Paret 1979 in Merseburg gelyncht wurden. Und ein anderer Fall ist der von Carlos Conceição. Der kam als Jugendlicher aus Mosambik an die Schule der Freundschaft und wurde am 19. September 1987 in Staßfurt umgebracht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken