Neues Album von Deichkind: Inkontinente Kapitalismuskritik
Rap is over. Deichkind sind nun eine Saufband mit CEO, der die Themen des neuen Albums, „Wer Sagt Denn Das?“ per Marktanalyse ermittelte.
Die Gruppe Deichkind spricht in fremden Zungen. „Ich möchte an dieser Stelle deutlich sagen: Mir ist es wichtig, dass Deichkind als Saufband wahrgenommen werden“, sagt Sebastian Dürre im Sonntagsredentonfall. Auf dem Tisch, an dem er mit seinen Bandkollegen Platz genommen hat, stapeln sich Bücher und Kram. Damit sich niemand langweilt, während JournalistInnen die immer gleichen Fragen stellen, lassen die Hanseaten ihre GesprächspartnerInnen zur Begrüßung eine Actionkarte ziehen. Die entscheidet über die Art der Konversation: Zur Auswahl stehen zum Beispiel das „kulinarische Interview“ und das „Mode-Interview“.
Die Karte mit dem „politischen Interview“ ist vergeben, bleibt „das Schauspielinterview“. Sebastian Dürre alias „Porky“, Philipp „Kryptik Joe“ Grütering und Henning Besser, der bei Deichkind als „La Perla“ firmiert, werden in spontan erdachte Rollen schlüpfen: Regisseur La Perla gibt den abgebrühten Geschäftemacher, eine Art CEO, der aus seinem getunten Mercedes „Öko-Freaks“ auslacht. MC Porky wird zum desillusionierten No-Bullshit-Typen. Und Kryptik Joe, MC, Beatbastler und einziges verbliebenes Gründungsmitglied, nimmt den Part des Gefühlsbetonten mit Hang zu krummen Metaphern ein: „Für mich ist das Thema Deichkind sehr emotional“, sagt er ernst. „Ein Ozean des Seins, an den permanent die Wellen der Gefühle platschen.“ Alle fallen bald aus der Rolle.
Ein Interview zum Happening zu machen, das auch die Künstler unterhält, ist ein bewährtes Konzept. Die Ärzte brachten damit schon ReporterInnen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, US-Sängerin St. Vincent empfing die Presse zuletzt in einem pinkfarbenen Holzwürfel. Im Falle von Deichkind ist das Rollenspiel-Gespräch vielleicht die aufrichtigste Art des Dialogs. Zum einen, weil Deichkind zu dadaistisch für Geradeaus-Antworten ist. Und zum anderen, weil das Spiel mit Sprecherpositionen die Grundfrage ihres neuen, siebten Albums aufgreift: „Wer Sagt Denn Das?“
Im Titelsong stellen Deichkind alles infrage, angebliche Fakten, Binsen und sogar sich selbst: „Wer sagt, dass impulsive Menschen keine Grenzen kennen?“, zitieren sie ihren Hit „Remmidemmi“. Im Video reißen sich der Youtuber Rezo und „Tagesschau“-Sprecherin Linda Zervakis ihr eigenes Gesicht als Maske herunter. Zum Vorschein kommt: Kryptik Joe. Der Song umkreist, bei aller Party-Brachialität, knifflige Themen wie Fake News, Urheberschaft und Wahrheitsanspruch. Dabei kommen Deichkind zwar ohne auch nur ein Debatten-Buzzword aus, bringen uns aber trotzdem zur Frage: Kann es auch eine Chance sein, dass eine Gesellschaft alte Gewissheiten neu aushandeln muss – oder macht das Kommunikation unmöglich?
Massenkompatibler Sägezahn-Elektrosound
Begonnen haben Deichkind ihre Karriere vor mehr als 20 Jahren, damals noch als linientreue HipHop-Crew. Mit Alben wie „Befehl von ganz unten“ wendeten sie ihren Sound Mitte der nuller Jahre gen Electropunk. Durch Konzerte zwischen Kunstperformance, Mummenschanz-Revue und Saufspektakel festigten sie ihren Legendenstatus als vielköpfiges Eskapismuskommando, entwickelten zugleich etwas, das sich als politisches Sendungsbewusstsein deuten lässt.
Deichkind: „Wer Sagt Denn Das“ (Sultan Günther Musik/Universal)
In der deutschen Popszene sind Deichkind die Ausnahme. Mit ihrem massen- wie chartskompatiblen Sägezahn-Elektrosound passen sie auf jede Abifahrt nach Lloret de Mar, bewegen sich aber trotzdem im Umfeld der Ballermann-unverdächtigen Hamburger Humorboheme: Beim Gespräch mit Deichkind ist auch Gereon Klug anwesend, Autor, DJ, Werbetexter aus dem Zirkel von Studio Braun und Gründer des Hamburger Plattenladens „Hans-E-Platte.“ Er hatte einst die Songidee zum Hit „Leider geil“. Überhaupt sind Deichkind eher Kollektiv als verschworene Mini-Einheit: Auf „Wer Sagt Denn Das?“ schaut etwa Bela B. vorbei. Als Komponist war unter anderem Maurice Summen beteiligt, Chef des Berliner Labels Staatsakt. Ausgeschieden ist dagegen Sascha „Ferris MC“ Reimann, der bis 2018 zehn Jahre lang für Deichkind rappte.
Es wäre nicht ganz richtig, zu behaupten, Deichkind spielen sich im Gespräch die Bälle zu. Eher werfen alle drei den Ball unkontrolliert durch den Raum – aufgefangen wird er irgendwie trotzdem. In rascher Folge fallen also Sätze, die wenig Sinn, aber Riesenfreude machen: „Jeder Schmied ist seines Glückes Herd.“ – „Faulheit und Freiheit sind phonetisch nah beieinander.“ – „Die Kelly Family hat einen saumäßigen ökologischen Fußabdruck, schon wegen der ganzen Haare, die sie rumliegen lassen.“ Um Organhandel und E-Roller geht es auch.
Im Videoclip zu ihrem Song „Richtig gutes Zeug“ turnen Deichkind in absurden Verkleidungen durch das Berliner KaDeWe. Schauspieler Lars Eidinger, aktuell Dauergast im Bandkosmos, lässt sich mit Stickern bekleben, füttert ein Babyschwein mit Essstäbchen und steckt sich Babymais in die Nase. Warum? Warum nicht. Ist ja auch nicht dümmer als die Begierde, die künstliche Verknappung erzeugt: „Richtig gutes Zeug, da musst du richtig lange suchen für“, raunt Kryptik Joe im Song. Welches Produkt gemeint ist, bleibt nebulös. Hauptsache, „mega schwer zu kriegen“.
Mit Phrasensensor!
Deichkind haben einen feinen Phrasensensor. Sie lauschen dem Alltag die dümmsten Plattitüden ab und spielen sie in konzentrierter Form in die Welt zurück. Dabei sind Deichkind selten wirklich ironisch, vielmehr stellen sie eine grell ausgeleuchtete Version der Gegenwart aus und ähneln in gewisser Weise einer anderen großen Eventgruppe des Landes: Rammstein, deren Sänger Till Lindemann einen Gastauftritt im Song „1000 Jahre Bier“ hat. Während man in der teutonischen Wurst- und Horrorshow von Rammstein in aller Ruhe das Verdorbene und Verbotene beglotzen kann, spiegelt sich im Deichkind-Panoptikum eher das Allzumenschliche: „Eigentlich lieb ich Theater, aber drei Stunden sind echt zu lang“, heißt es in „Quasi“, Deichkinds Hymne an die faulen Ausflüchte. Ob Inkonsequenz schlimm sei? „Inkontinenz find ich schlimmer“, sagt Porky.
Der Vorschlag zur Güte nach der Gegenwartsdiagnose bleibt aus bei Deichkind. Statt den Zeigefinger zu heben, affirmieren sie den Wahnsinn. Man fühlt sich in ihren Songs von seiner eigenen Blödheit trefflich unterhalten, darf im Strobolicht des spätkapitalistischen Stumpfsinns baden und sich trotzdem erleuchtet fühlen. „Es hat keinen Sinn, dass wir uns mit gesellschaftspolitischen Ideen aufhalten“, sagt Porky in seiner Rolle als Realist. „Popmusik kann nicht die Welt verändern. Wir haben eine erfolgreiche Rezeptur, und die beinhaltet Party und saufen. Das sollten wir weiter durchziehen. Niemand interessiert sich dafür, ob es eine Wechselwirkung zwischen Publikum und Künstler gibt!“
CEO La Perla beschreibt die Bandstrategie anders. „Wir haben vor der Aufnahme eine große Marketinganalyse in Auftrag gegeben, die genau gezeigt hat, wer unsere Fans sind und was sie hören wollen. Pseudolinke Parolen scheinen angesagt zu sein, gemischt mit ein bisschen Hedonismus. Das war klar aus den Werteclustern herauszulesen. Solange die Leute zu uns in die Mehrzweckhallen kommen, ist mir scheißegal, was wir da aufführen.“
Die „echten“ Deichkind sind nicht nihilistisch, kennen aber keine Moral. Das unterscheidet sie vom Gros der politischen Künstler in Deutschland, die alles furchtbar gut meinen, aber mit ihrem didaktischen Ansatz den Uneindeutigkeiten der Gegenwart nicht ganz gerecht werden. In ihren besten Momenten machen Deichkind Denkarbeit, indem sie Denkfaulheit performen. „Alter, war das anstrengend“, sagt Kryptik Joe am Ende des Interviews. Zum Abschied verschenkt Gereon Klug Merci-Pralinen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen