Neues Album von CocoRosie: Trost für verlorene Selbst-Entwürfe

CocoRosie zeigen, dass musikalische Eigenwelten keineswegs der Logik der Innovation folgen müssen. Sie können auch so politisch fortschrittlich sein.

Die Musikerinnen sitzen auf der Ladefläche eines alten Vans

Jede*r soll viele sein können: die Schwestern Bianca und Sierra Casady sind CocoRosie Foto: Believe

Was, wenn es gar nicht darum ginge, auf jedem nächsten Album etwas Neues zu schaffen? Was, wenn es nicht um musikalische Innovation ginge? Wenn die Vorstellung eines Genies, das unter Leiden immer weiter vordränge und sich an der Logik des Fortschritts erschöpfte, uninteressant wäre? Das sind keine hypothetischen Fragen: Denn wenn es darum nicht geht, ist „Put The Shine On“, das neue Album von CocoRosie, ein gutes Werk.

Das Erfolgskonzept der US-Band liegt nämlich gerade nicht darin, dass sie immer wieder Neues hervorbringt. „Put The Shine On“ führt fort, was Bianca und Sierra Casady seit über 15 Jahren betreiben. Sie bauen ein Klanguniversum. In diesem Sinn geht es nicht nach vorne, es geht in die Breite. Sie fügen an der einen Seite ein Stück hinzu, befestigen es an einer anderen. Das heißt: CocoRosie muss man nicht nur hören, man muss es als einen Weltentwurf begreifen.

Zwar ist auf „Put the Shine On“ etwas mehr elektrische Gitarre zu hören als sonst. Die Attraktivität des Albums besteht aber nicht darin, etwas Neues zu hören.

CocoRosie ist darin einer lang laufenden TV-Serie vergleichbar. Es geht für die Zu­schau­er*innen weniger um die Entwicklung eines längeren Handlungsstrangs, sondern um die Möglichkeit, immer wieder in diese Welt zurückzukehren. Wichtig ist dann, dass diese jedes Mal so vorgefunden wird, wie man sie verlassen hat. Und nicht, dass plötzlich alles anders ist.

CocoRosie: „Put the Shine On“ (Marathon Artists/Believe)

Live: 23. 3., „Festsaal Xberg“, Berlin; 27.3., „Mojo“, Hamburg; 28. 3., „Zakk“, Düsseldorf; 31. 3., „Wagenhalle“, Stuttgart

Obwohl die beiden Schwestern dieser Analogie widersprechen würden. Performing Arts heißt für sie vor allem, live auf der Bühne zu stehen: „Die Flüchtigkeit von Konzerten reflektiert unsere Endlichkeit, die uns alle verbindet. Es ist außerdem schön, etwas zu erleben, das ohne diese schrecklichen Bildschirme auskommt.“

Das Grundgerüst der Welt, die dort zur Aufführung kommt, legten Bianca und Sierra Casady im Jahr 2004. Da erschien „La maison de mon rêve“, ihr Debüt. Sierra Casady verfolgte damals eine Karriere als Opernsängerin. Um sich am Conservatoire de Paris ausbilden zu lassen, zog sie Anfang der Nuller nach Frankreich.

Harfe und Rapgesang

Als Bianca Casady wenige Jahre später nachkam, nahmen sie in Sierras Badezimmer ihr Debüt auf. Geboren war damit nicht nur der Sound von CocoRosie, geklärt waren auch die Rollen, die die Schwestern in der Band einnehmen.

Sierra Casady ist für das klassische Element zuständig: Sie hat eine eigene Art des Pop-Operngesangs entwickelt, spielt Gitarre, Harfe und Klavier. Bianca Casady kontrastiert Gesang und Spiel ihrer Schwester mit Kinderspielzeug und anderen elektronischen Geräusch­erzeugern.

Dieser Kontrast erhöht sich, wenn Bianca Casady zu rappen beginnt. Harfe und Spielzeugkeyboard, Operngesang und Rap, high und low – diese Gegensätze prägen den Sound von CocoRosie. Dass auf „Put the Shine On“ ein paar Gitarrenriffs zu hören sind, verändert ihn nicht wesentlich.

Um aus dem Sound- einen Weltentwurf zu machen, ist das Talent der Schwestern zur Inszenierung entscheidend. Bei Auftritten haben sie meistens Unterstützung durch eine Begleitband. Diese besteht in der Regel aus Bassist*in, Beatboxer*in und Keyboarder*in. Sie ermöglichen es den Künstler*innen, in für die Band-Welt entworfenen Charakteren aufzutreten.

Die Schminke erinnert an die Oper, die Baseballcaps an HipHop, die aufgemalten Bärte deuten auf das Spiel mit Geschlechterzuschreibungen, das Teil der queeren Vorstellungswelt von CocoRosie ist. Wenn Bianca Casady sich dann gelegentlich an die Harfe setzt, ist der Show­effekt mindestens genauso wichtig wie die Töne.

Die Themen, das gilt auch für das neue Album „Put the Shine On“, kreisen um das Verhältnis von Unschuld und ihrem Verlust. Daraus ergeben sich die Motive der Songs: Traum und Wahnsinn, biblische Themenkreise wie im Song „Lamb and the Wolf“ und Kindheit. In all diesen Zusammenhängen fragen CocoRosie nach der Möglichkeit eines Lebens ohne Schuld, zwischen nostalgischer Hoffnung und dem Wissen um dessen Unmöglichkeit.

Die Position der Schwachen

Dabei ergreifen sie emphatisch die Position der Schwachen: „Wir gehen zwar von unseren eigenen Erfahrungen aus, versuchen aber immer einen Platz für diejenigen zu finden, die keine Stimme haben.“

Insofern verfolgen CocoRosie ein politisches Projekt. Sie kreieren eine imaginäre Gegenwelt zur Realität, die Möglichkeiten eröffnen soll, die in der Gegenwart nicht bestehen. 2017 nahmen CocoRosie zusammen mit ANOHNI einen Protestsong ­gegen US-Präsident Donald Trump mit dem Titel „Smoke ’em Out“ auf.

Auf „Put the Shine On“ stehen psychisch kranke Menschen im Fokus des Songs „Smash My Head“, dessen industrieller Sound ein wenig nach Marilyn Manson klingt: „Im Westen werden Menschen mit ‚psychischen Krankheiten‘ oft isoliert, beschämt, mit Medikamenten ruhig gestellt, ein- und weggesperrt.“ Das Video zum Song exerziert diese Handlungen symbolisch durch.

Maximalisierung der Möglichkeiten

Die Casady-Schwestern treten für eine Maximalisierung der Möglichkeiten aller ein. Jede*r soll viele sein können. Nicht immer hat das unbedingt einen politischen Hintergrund, genauso wenig wie die Kollaborationen der Band. 2019 waren sie auf dem Debütalbum von Chance The Rapper zu hören. Mit ihm verbindet die Schwestern neben der Vorliebe für HipHop die Auseinandersetzung mit christlichen Motiven, die von einer Mischung aus Faszination und Zweifel getragen ist.

Auf musikalischer Ebene führt diese Auseinandersetzung zu einem nostalgischen Grundton. Die Nostalgie lässt sich einerseits über das Thema der Kindheit erklären: „Wir kehren oft zu unserer Kindheit zurück, denn sie verlässt uns niemals wirklich. Wir werden durch sie geformt und tragen sie mit uns, wie eine Matroschka.“

Andererseits liegt in diesem nostalgischen Grundton die Attraktivität der CocoRosie-Vorstellungswelt. Denn Nostalgie richtet sich in der Regel nicht auf reale historische Orte, sondern imaginiert eine ideale Vergangenheit, die es real nie gegeben hat.

Die Frage nach der Nostalgie

CocoRosie zu hören heißt gemeinsam in diese imaginäre verlorene Welt zurückzukehren und sie für einige Momente zu bewohnen. Wie deutlich dies den beiden Schwestern ist, lässt sich daraus schließen, dass sie die Frage nach der Nostalgie nicht kommentieren wollen.

In Bezug auf das Thema der Kindheit sagen sie hingegen: „In uns sind all diese früheren Selbstentwürfe. Wir haben Zugang zu ihnen und können als Erwachsene sogar Zeitreisen zu ihnen unternehmen, zu den verlorenen Entwürfen sprechen und sie trösten.“ Das deutet den fundamentalen Unterschied zum ebenso nostalgischen „Make America Great Again“ an: CocoRosie geht es um Inklusion und nicht um Exklusion.

Die Welt von CocoRosie lädt dazu ein, jenen individuellen und kollektiven Momenten der Vergangenheit nachzuspüren, die in der Gegenwart nicht mehr präsent sind. Um politisch fortschrittlich zu sein, muss diese Welt musikalisch nicht der Logik der Innovation folgen. Das ist den Casady-Schwestern ganz bewusst.

In diesem Sinn ruft das Cover von „Put the Shine On“ die Steampunk-Ästhetik auf: „Wir unternehmen viele Zeitreisen in unserer Musik. Alle Popmusik macht das. Sie ist eine Vermischung dessen, was schon war.“

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