Die Wellenspringer schlagen zurück

Sich aus der Gewalterfahrung der Sklaverei herausträumen: „The Book of Drexciya“ überträgt die Geschichten rund um das Detroiter Elektroduo Drexciya in die Form eines Comics

Schwarze Superhelden: Dr. Blowfin zeigt den beiden geretteten Kindern Drexaha und Anhuru eine Höhle in der Tiefsee Foto: Tresor

Von Julian Weber

Fiktionen erlauben es, eine Geschichte so zu drehen, dass fatale Ereignisse einen anderen Ausgang nehmen als in Wirklichkeit. Besonders fantasievoll ist dies Drexciya gelungen, einem Elektronik-Duo aus Detroit, das 1989 von Gerald Donald und James Stinson gegründet wurde und bis 2002 bestand, als ­Stinson einem Herzinfarkt erlag. Drexciya inszenierten sich als Erforscher einer bizarren Unterwasserwelt, um dort Belege für Menschlichkeit zu finden, weil es an Land Mangel an Zivilisation gab.

Kommuniziert haben die beiden afroamerikanischen Produzenten ausschließlich durch ihre instrumentale Musik: Ein mit allen Raffinessen zwischen Funk, Electro und Bionic-Boogie ausgestatteter spielerischer Techno-Hybridsound, kreiert mit Drummaschine, Sequenzer und zwei Synthesizern. Fast alle Tracktitel von Drexciya haben Bezug zum Ozean, alles fließt. „Netpun’s Lair“, „Oxyplasmic Gyration Beam“, „Triangular Hydrogen Strain“. Im Zusammenspiel von Betitelung, Inszenierung, und Coverkunst erzeugt die futuristische Musik von Drexciya ihre Resonanz.

Während der Sound in eine bessere Zukunft zeigt, in der Technologie dem Fortschritt dient, verweist der Projektname Drexciya auf ein besonders düsteres Kapitel der gewalttätigen Vergangenheit des Sklavenhandels. Schwangere wurden während der Überfahrt auf den Sklavenschiffen von Westafrika in die USA als „störende Fracht“ betrachtet und zu Tausenden über Bord geworfen, um Versicherungskosten zu sparen. In der überlieferten Sage kommen jene Babys der Schwangeren als Kiemen-atmende Zwischenwesen in einer Luftblase im Atlantik zur Welt und werden von Monstern großgezogen.

Irgendwo in der Tiefsee blubbert etwas. Dort liegt Drexciya, ein schwarzes Atlantis am Grund des Ozeans, das als sicherer Ort dieses aquanautischen Lebens gilt: „Von da sind die Babys in den Golf von Mexiko geschwommen, den Mississippi hochgewandert, bis zu den Großen Seen nach Michigan“, so fabulierten Drexciya. „Wäre es möglich, dass Menschen unter Wasser atmen, so wie Föten in der Fruchtblase im Mutterbauch gedeihen?“, fragten die Musiker in den Linernotes ihres Albums „The Quest“, das 1997 veröffentlicht wurde.

In der Version des Detroiter Duos sind diese schwarzen Menschen nicht unterjocht und in Ketten verschleppt oder brutal ermordet worden, sie leben als Aliens in einem Gebiet, das halb sozial-realistisch gezeichnet, halb als Unterwasser-Versuchslabor dargestellt ist.

Was die 400-jährige Geschichte der Sklaverei für Nachwirkungen hat, wie verbreitet Rassismus und Benachteiligung auch im Alltag sind, lässt sich gegenwärtig an den landesweiten Unruhen nach der brutalen Festnahme und dem Erstickungstod von George Floyd in den USA ermessen. Drexciya träumten sich aus der unmenschlichen Ge­­walt­erfahrung der Sklaverei in ein SciFi-Abenteuer. Diesen Wandlungsmythos haben die beiden Musiker zeit ihres Bestehens nicht zu Ende formulieren können. Nun, bald 20 Jahre nach dem Ende ihres Projekts, wird diese Story mit anderen Mitteln weitererzählt.

Der Mythos von Drexciya, dem schwarzes Atlantis, verweist auf ein düsteres Kapitel des Sklavenhandels

„The Book of Drexciya“ ist eine prachtvoll ausgestattete Co­mic­strip-Fortsetzungsgeschichte in Buchform geworden. Gezeichnet hat der Grafiker Abdul Qadim Haqq, der für Drexciya, aber auch für andere Detroiter KünstlerInnen Cover gestaltet hat. Getextet hat der japanische Anime-Designer und Drehbuchautor Dai Satō. Blaugrün schimmern die Fluten des Ozeans, Korallenriffe, Fische, Luftblasen steigen nach oben: „Die Schwestern der Tiefsee“ kümmern sich um die Drexciya-Babys. In sechs, teils nach Drexciya-Titeln wie „Neptun’s Lair“ benannten Kapiteln, wird die Geschichte vom Heranwachsen der Babys zu Teenage-Warriors und sogenannten „Wave-Jumpers“, Unterwasserkriegern, aufgefädelt. Mit Rat und Tat steht ihnen der Mutanten-Wissenschaftler Dr. Blowfin zur Seite, dessen Konterfei an den berühmten Detroiter Funkateer George Clinton erinnert.

Die Kapitel in „The Book of Drexciya“ sind kurzweilig und erinnern an klassische Comicstrips in Zeitungen. Angelehnt sind sie an die ungleich berühmteren Marvel-Superhelden-Geschichten. Allerdings steckt kein Großverlag, kein Franchise-Unternehmen hinter der Veröffentlichung, sie wurde durch Fundraising von Drexciya-Fans finanziert und wird vom Berliner Label Tresor in Europa vertrieben.

In die Abenteuer unter Wasser sind Heldinnen und Helden verstrickt, sie bieten dem Bösen furchtlos die Stirn. Positive Rollenbilder werden in der afroamerikanischen Vorstellungswelt dringend gebraucht. Sie können das Vergangene nicht ungeschehen machen, lassen aber – wie es „The Book of Drexciya“ exemplarisch zeigt – auf eine gerechtere Zukunft hoffen.

„The Book of Drexciya. Volume 1“. The Drexciyan Empire/Tresor 2020, 76 Seiten, ca. 35 Euro