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Neuer Wahlleiter für BerlinDie Angst vor den Neuwahlen

Bert Schulz
Kommentar von Bert Schulz

Die rot-grün-rote Koalition fürchtet, dass das Verfassungsgericht eine Wahlwiederholung verlangt. Eine interessante Personalie soll das verhindern.

Auch sie kam nicht sofort an die Urne: Giffey in der Schlange vor einem Wahllokal im September Foto: dpa

D er 26. September 2021 war ein traumatischer Tag für die Berliner Landespolitik. Die Abstimmungen zu Bundestag, Abgeordnetenhaus, Bezirksparlamenten und Volksentscheid, unter Pandemiebedinungen und parallel zum Marathon: Allen Warnungen zum Trotz führte das zu so vielen Pannen, dass einige Po­li­ti­ke­r*in­nen inzwischen sogar eine komplette Wiederholung nicht mehr für ausgeschlossen halten.

Eine von der Landesregierung selbst eingesetzte Kommission kam Anfang Juli zu dem Schluss, Senat und Abgeordnetenhaus hätten die „logistische Herausforderung der Vierfachwahl massiv unterschätzt“. Sie sparte nicht mit Kritik an der Vorbereitung der Wahl, an der grundsätzlichen Struktur, wie Wahlen in Berlin organisiert werden, und am Handeln – oder besser: Nichthandeln – einzelner Politiker, namentlich des damaligen Innen- und heutigen Bausenators Andreas Geisel (SPD). Eines der Mitglieder dieses Gremiums aus Ex­per­t*in­nen und Or­ga­ni­sa­to­r*in­nen der Wahlen war Stephan Bröchler.

Ausgerechnet der 59-jährige Politikwissenschaftler an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht soll ab Oktober auf Wunsch des Senats den Posten des Landeswahlleiters übernehmen. Das erfuhr die taz am Freitag aus Senatskreisen. Die Kür eines Kenners und Kritikers der Wahlabläufe ist auch ein Signal und Eingeständnis in Richtung des Verfassungsgerichtshofs des Landes: Man hat Fehler gemacht, aber man will die Abläufe verbessern, um Wahlen in Berlin künftig wieder rechtssicher durchführen zu können.

Vom Trauma zum Drama?

Das Verfassungsgericht will bis Ende des Jahres über die Konsequenzen aus den Pannen und über die Einsprüche gegen die Wahl entscheiden. Würde eine Neuwahl des Abgeordnetenhauses notwendig, könnte das Trauma zum Drama werden: Denn es ist längst nicht sicher, ob die Koalition genügend Stimmen bekäme, um ihre Arbeit fortzusetzen. Mit diesem Zugeständnis geht es ihr also auch darum, die eigene Existenz als Regierung zu retten. Besonders die SPD, die nicht zuletzt durch den bundespolitischen Rückenwind für Olaf Scholz wieder ins Rote Rathaus gewählt wurde, aber auch die Linke müssten Einbußen fürchten.

Unausweichlich ist wohl, dass in einzelnen Wahlkreisen mit einem sehr knappen Ergebnis eine Wiederholung ansteht. Dort könnten die Pannen mandatsrelevant gewesen sein: Potenzielle Wäh­le­r*in­nen wurden vielleicht durch die Schlangen abgeschreckt, falsche Stimmzettel haben möglicherweise den entscheidenden Ausschlag gegeben. Auch diese Wiederholung im Detail könnte Auswirkungen auf die Sitzverteilung im Parlament haben. Sie würde aber nicht die Koalition gefährden, sondern höchstens das Image von Senator Geisel.

Bei weitem keine Einzelfälle

Aber in den Monaten nach der Wahl sind immer mehr Pannen bekannt geworden. Der Bundeswahlleiter hat eine Neuwahl in sechs der zwölf Bundestagswahlkreise gefordert, und auch die Senats-Kommission geht davon aus, dass es sich bei der Vergabe fehlerhafter Wahlzettel und Verzögerungen im Ablauf keineswegs um Einzelfälle handelte, sondern weit mehr als die anfangs angenommenen 10 Prozent der Wahllokale betroffen waren. Damit ist eine Neuwahl keineswegs ein unrealistisches Szenario mehr.

Dieses möglichst abzuwenden, wird für den Senat immer drängender. Viele Möglichkeiten gibt es freilich nicht mehr: Die damalige Landeswahlleiterin war bereits wenige Tage nach der Wahl zurückgetreten, die Innensenatorin heißt inzwischen Iris Spranger (SPD), und ungeschehen machen lassen sich die Vorfälle sowieso nicht. Um die Rich­te­r*in­nen milde zu stimmen, bleibt nur, guten Willen für Veränderungen zu zeigen und diese so schnell wie möglich anzugehen. Ob diese Taktik aufgeht, hängt auch von den ersten Schritten von Stephan Bröcher ab, wenn er sein Amt am 1. Oktober antritt.

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Bert Schulz
Ex-Leiter taz.Berlin
Jahrgang 1974, war bis Juni 2023 Leiter der Berlin-Redaktion der taz. Zuvor war er viele Jahre Chef vom Dienst in dieser Redaktion. Er lebt seit 1998 in Berlin und hat Politikwissenschaft an der Freien Universität studiert.
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3 Kommentare

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  • Angesichts der Situation ist es ein Fehler, die Entscheidung des Gerichts abzuwarten und mit politischen Tricks um die Amtszeit zu pokern. Die einzig richtige Entscheidung wäre ein geschlossener Rücktritt aller und schnellstmögliche Neuwahlen. Die auf einer fehlerhaften Wahl basierende Macht erhalten zu wollen, schadet der Demokratie.

  • Neuwahlen sind ein muss! Alles andere wäre ein Armutszeugnis für unsere Demokratie.



    Das sollten sich die Politiker um Frau Giffey und ihre Koalitionäre hinter die Ohren schreiben.



    Der mit Sicherheit zu erwartende Machtverlust wäre die richtige Quittung.

  • Wie würde man mehr als ein Jahr nach der Wahl eine partielle Neuwahl veranstalten? Die Bervölkerung in den Wahlkreisen ist nicht gleich geblieben; es gitb Zu- und Wegzüge sowie Verstorbene. Ein Zuzügler könnte erneut (und damit eine doppelte) Stimme abgeben, während ein Wegzügler um seine Stimme gebracht wird. Was passiert mit Menschen, die zwischenzeitlich das Wahlalter erreicht haben? Das alles müsste per Gesetz in sechzig Tagen organisiert werden; das schafft Berlin nie.

    Einzige richtige Entscheidung: Neuwahlen.