Der Fremde, der sich Vater nennt

Martin Scorseses Film „The Irishman“ ist eine nuancierte, umfangreiche Dekonstruktion von Männlichkeit. Sein Hauptdarsteller Robert De Niro und andere ältere Kollegen werden bei Bedarf digital verjüngt

Zwei, die sich verstehen: Gewerkschaftsboss Jimmy Hoffa (Al Pacino) und Auftragskiller Frank Sheeran (Robert De Niro, rechts) Foto: Netflix

Von Anke Leweke

Was für ein irritierender und zugleich abgehobener und nüchterner Auftakt! Wie so oft bei Martin Scorsese kommt die Kamera aus dem Nichts. Zu einer Swing-Musik, die eigentlich nicht zur Umgebung passen will, gleitet sie durch einen in Braun- und Beige­tönen gehaltenen Aufenthaltsraum, in dem betagte Männer und Frauen in Grüppchen oder allein sitzen. Sie biegt um die Ecke, hinein in einen endlosen Flur, passiert eine große Jesusfigur und blickt schließlich in ein altengerechtes Zimmer. Close-up auf das Gesicht eines Mannes mit zerfurchtem Gesicht und schütterem, nach hinten gekämmtem Haar.

Der alte Herr, das werden wir im weiteren Verlauf erfahren, ist Frank Sheeran (1920–2003), Vater von vier Töchtern, Auftragsmörder der US-amerikanischen Mafia Cosa Nostra, Freund und Berater des einflussreichen Gewerkschaftsführers Jimmy Hoffa. Robert De Niro spielt diesen Titelhelden von Martin Scorseses Film „The Irishman“ zurückgenommen, in sich verschlossen, so als werde seine Figur erdrückt von dem Männerbild, das sie sich selbst aufgebürdet hat.

Es ist nicht nur das Alter, das die Figur des Killers seltsam starr wirken lässt. In extremer Nahaufnahme wird sein Gesicht fixiert, weil in der Luft liegt, dass hier jemand etwas mit sich herumträgt – und aussprechen möchte. Lebensgeschichte, einsamer Monolog, Heldenstory, Heldenabgesang oder Beichte?

Wir folgen Frank Sheerans Ich-Erzählung, seinen Erinnerungen, die hin und her springen zwischen fünf Jahrzehnten und unzähligen Orten, zwischen Morden, Abendessen, Taufen, kleineren und größeren Aufträgen. Und wir folgen: einem Scorsese-Film, der von einem Monster erzählt, dessen Krea­türlichkeit auch immer mit im Bild ist. „The Irishman“ beginnt im Altersheim, mit einem Protagonisten, der sich kaum mehr auf Krücken fortbewegen kann.

Entmachtung auf allen Ebenen

Bereits die erste Rückblende hat etwas von einer Kastration. Sie beginnt, als sich Sheerans Aufstieg vom Lastwagenfahrer aus der Provinz zum Chauffeur und engsten Vertrauten des Mafia-Bosses Russell Bufalino längst vollzogen hat. Die Optik entspricht dem Selbstbild, das hier am Werke ist: Cool glänzender Schlitten, protziges Freizeitoutfit, einschließlich eines bunten Hemds und übergroßer Sonnenbrille. Das Abholen von Geldumschlägen wird mit einem Ausflug verbunden.

Sheerans und Buffalos miteinander befreundete Ehefrauen haben auf dem Rücksitz Platz genommen. Sie bestimmen den Rhythmus der Fahrt, mehrmals muss angehalten werden, weil die beiden Gattinnen, gekleidet in pastellfarbene Schlaghosen, eine Zigarettenpause einlegen möchten. Zwei Männer, die eigentlich gewohnt sind, das Sagen zu haben, werden von ihren angeregt sprechenden Frauen im Hintergrund dominiert. Und das ist erst der Anfang. „The Irishman“ ist eine groß angelegte, nuancierte Dekonstruktion von Männlichkeit. Eine Entmachtung auf allen Ebenen.

Bereits in seinen früheren Mafiafilmen ging es Scorsese nicht um die mächtigen Paten und Bosse. Seine Good Fellas aus dem gleichnamigen Film, seine hypernervösen Straßenjungs von den „Mean Streets“ in Little Italy hingen immer an den Fäden der großen Marionettenspieler, sie waren Handlanger, Boten, Büttel und durften manchmal mit am Tisch sitzen. Auch Frank Sheeran findet sich plötzlich in einem italienischen Restaurant wieder. Ihm gegenüber sitzt der Mafiaboss Russell Bufalino, gespielt von einem großartig perfiden Joe Pesci, der mit sanfter Stimme erklärt, wo es langgeht, ohne dass einer seiner Sätze wie ein Befehl klingt.

Wieder zeigt sich Scorseses Vermögen, die sozialen Codes und Verhaltensregeln seiner Gangster bis in die kleinsten Gesten und Details zu inszenieren und mit Mehrdeutigkeit zu belegen. Wenn Bufalino sich wundert, woher der Ire Sheeran weiß, dass man in Sizilien frischgebackenes Brot in Rotwein tunkt, nimmt auch die Sehnsucht nach Heimat und das Amerika der Einwanderer mit am Tisch Platz.

Eine Rückblende erklärt, warum Sheeran überhaupt Italienisch spricht: Als GI bewacht er während des Zweiten Weltkriegs im Süden Italiens zwei gefangene Soldaten, die sich ihr eigenes Grab schaufeln – und die er nach erledigter Arbeit umgehend erschießt. Stets wird die Gewalt in „The Irishman“ hart, trocken und lakonisch ins Bild gesetzt und montiert (wie immer von Thelma Schoonmaker). Die blutige Mafiageschichte etwa erschließt sich beiläufig über eingeblendete Inserts. Sie geben Aufschluss darüber, wann, wo und mit wie vielen Kugeln Männer, die man für einen kurzen Augenblick während Verhandlungen in Hinterzimmern, auf Feiern oder an öffentlichen Plätzen sieht, in der Wirklichkeit umgebracht wurden.

Um das System am Laufen zu halten, braucht es folgsame Männer wie Frank Sheeran

Die von Sheeran ausgeübte Gewalt lässt auch etwas in ihm absterben, führt zu einer Verrohung, die er mit nach Hause nimmt. Scorsese zeigt ihn als selbstgefälligen Patriarchen, der meint, seinen Töchtern alles zu geben. Doch wenn die Kamera den Familientisch umkreist, ein Anruf das Essen unterbricht und Sheeran wie ferngesteuert aufsteht, spricht das verängstigte Gesicht eines kleines Mädchen Bände: Wer ist dieser Fremde, der am Tischende thront und sich Vater nennt? Später wird ihm eine der Töchter erklären, dass ihre Schwestern und sie ihn nie um Hilfe bitten konnten, weil die Wahl seiner Mittel stets unverhältnismäßig gewalttätig ausgefallen sei.

Mit der Arbeit für Jimmy Hoffa setzt sich Sheerans Aufstieg fort – so wie sein inneres Sterben. Er fungiert als Verbindungsmann, als von der Mafia eingeschleuster Ausspäher, der die Machenschaften von Jimmy Hoffa und seiner Gewerkschaft der Transportarbeiter kontrollieren und manipulieren soll. Mit eitlen Gesten und exzentrischem Mienenspiel legt Al Pacino seine Rolle des Gewerkschaftsführers an, spielt ihn als hemmungslosen Narzissten und Größenwahnsinnigen. Fernsehnachrichten berichten vom Attentat auf John F. Kennedy, die Fahnen im Land werden auf Halbmast gesetzt. Hoffa stürmt auf das Dach des Teamsters-Gewerkschaftshauses und lässt sie wieder hochziehen. Ein ikonografisches Bild. Wer hält in diesem Land eigentlich die Strippen in der Hand?

Zunächst als Berater eines Untersuchungsausschusses gegen das organisierte Verbrechen und später als Justizminister versucht Robert Kennedy, die Verbindungen Hoffas zur Mafia nachzuweisen. Der Staat erklärt dem Staat-im-Staat den Kampf, denn längst hat die Cosa Nostra die Politik infiltriert. Um das System am Laufen zu halten, braucht es folgsame Männer wie Sheeran. Er mag goldene Armbanduhren anlegen und mit mächtigen Männern auf Du und Du sein und bleibt doch nur ein Rädchen im Getriebe des Verbrechens.

Manche Bildfolgen von „The Irishman“ wirken wie ein Fegefeuer, das nicht in Läuterung oder gar Erlösung enden kann.

Der teure Prozess des digitalen De-aging wiederum (der Film hat 159 Millionen Dollar gekostet) bringt eine ganz eigene Form des Unerlöstseins hervor: In den Rückblenden sind die Gesichter weniger faltig, dennoch haben die Figuren die eher verlangsamten Bewegungen älterer Herren. Schon als Jüngere sind sie, was sie sein werden. So als könnten sie ihren späteren Taten nicht entkommen. Ohnehin liegt über dem Film der Determinismus eines Marionettentheaters: Männer halten andere Männer an den Strippen. Der Abgrund von Schuld, Einsamkeit und Tod erwartet die einen wie die anderen.

„The Irishman“. Regie: Martin Scorsese.Mit Robert De Niro, Al Pacino u. a. ‚ USA 2019, 210 Min.