Neuer Roman von T.C. Boyle: Pool, SUV, Mehlwurmburger
Was sollen die Menschen auch tun? In T.C. Boyles Gesellschaftssatire „Blue Skies“ ist der Ausnahmezustand zum neuen Normal geworden.
Falls es wirklich kein richtiges Leben im falschen geben sollte, so haben die ProtagonistInnen von T.C. Boyles neuem Roman davon jedenfalls noch nichts gehört. Und so ziemlich alles ist in ihrer Welt inzwischen falsch: In Florida, wo ein Teil des Romans spielt, regnet es fast ununterbrochen, und das unberechenbar gewordene Meer ist dabei, sich Teile der Küste zu holen, an der nun völlig wertlose Strandhäuser stehen, die vormals ein Vermögen gekostet haben.
Empfohlener externer Inhalt
In Kalifornien dagegen, dem anderen Romanschauplatz, herrscht eine Dürre biblischen Ausmaßes und fast das ganze Jahr über lebensbedrohliche Hitze. Dann tritt auf dem ganzen Kontinent auch noch ein großes Insektensterben ein, von dem sich nur die blutsaugenden Arten erholen, während nützliche Insekten wie die Honigbiene durch bionische Drohnen ersetzt werden müssen.
Aber was sollen die Menschen denn tun? Keine Flugreisen mehr machen? Ihre Klimaanlagen, Autos und Swimmingpools abschaffen? Wie soll das denn gehen, gerade bei der Hitze?
Sie sind nicht anders als du und ich und alle, die wir kennen, die Mitglieder der Familie Cullen, die T.C. Boyle der Welt als eine Art Spiegel vorhält. Nur sind sie schon ein Stück weiter als wir. Sie wissen prinzipiell um den Ernst der Situation und gehen sehr unterschiedlich damit um, haben sie aber letztlich alle schon als Realität akzeptiert.
T.C. Boyle: „Blue Skies“. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag, München 2023. 400 Seiten, 28 Euro
„Blue Skies“ handelt von der Klimakatastrophe, auf die auch wir schon zusteuern, ist aber kein Katastrophen-, sondern ein geringfügig in die Zukunft verschobener Gesellschaftsroman. Drei Personen und ihre unterschiedlichen Perspektiven tragen die Handlung: Ottilie, eine 70-jährige kalifornische Arztgattin, sowie ihre erwachsenen Kinder Cat und Cooper.
Der Sohn mag Insekten
Letzterer ist Insektenforscher, arbeitet an seiner Dissertation und hat als Wissenschaftler den klarsten Blick von allen auf die menschengemachte Naturkatastrophe. Ganz anders seine Schwester Cat, die in Florida in einem coolen Strandhaus lebt, gern Influencerin wäre und sich als Lifestyle-Requisit einen Tigerpython zulegt.
Mutter Ottilie wiederum möchte immer alles richtig machen, hat ihren Garten auf Anraten des Sohnes insektenfreundlich gestaltet und versucht sogar, Grillen für den Verzehr zu züchten.
Alles richtig zu machen, ist aber sehr schwer. Die Grillenzucht misslingt, die Mehlwurmzucht ebenso, aber immerhin gibt es inzwischen Laborfleisch zu kaufen, das fast so schmeckt wie Hühnchen. Im Gegensatz zu ihrer Freundin Sylvie duscht Ottilie nur noch sehr selten, um Wasser zu sparen, schwimmt aber täglich in ihrem Pool, in den sie haufenweise Chlor kippen muss, um bei der Hitze das viele Wasser keimfrei zu halten.
Und natürlich muss sie sich ins Flugzeug setzen, um zu Cat nach Florida zu gelangen, als diese mitten in einem Hurrikan mit Zwillingen niederkommt, ihr Mann nicht da ist und das Haus abzusaufen droht. Es geht ja nicht anders. Im Großen Ganzen ist es leicht, sich mit Ottilie zu identifizieren. Sie ist tatkräftig, experimentierfreudig und unerschrocken, und von den Hauptfiguren ist sie diejenige mit den am wenigsten satirischen Zügen.
Würgeschlange als Haustier
Anders verhält es sich mit ihrer Tochter. Im echten Leben würde man kaum glauben wollen, dass eine Gestalt wie Cat Tochter dieser patenten Mutter sein soll. Cat denkt ausschließlich in Lifestyle-Kategorien und hat sich darauf eingerichtet, ein sorgloses Leben als gutgekleidete Ehefrau eines gutverdienenden Mannes zu führen. Dass eine Würgeschlange ein eher unpassendes Haustier für einen Säuglingshaushalt ist, scheint ihr keinen Augenblick in den Sinn zu kommen.
Aber meist vernebelt ihr ohnehin der Alkohol das klare Denken. Den Hang zu sehr regelmäßigem Alkoholkonsum allerdings teilt sie mit allen Romanfiguren, einschließlich ihrer Mutter. Das Leben in der schleichenden Apokalypse scheint sich nur berauscht ertragen zu lassen.
Aber eben dass es sich bereits um die Apokalypse handelt, das Ende der Welt, wie sie sie kannten, das wäre zu viel, als dass die Romanfiguren es sich in aller Klarheit eingestehen könnten – den Biologen Cooper ausgenommen, dem die Natur auch noch übel mitspielt. Doch Coopers düstere Prophezeiungen wirken im Kontext des Familien-Esstischs wie ein zur Rolle des ewigen aufmüpfigen Teenagers gehörendes Geplänkel.
Und die lebensbedrohlichen Dramen, die der Autor im Laufe des Romans seinen Charakteren zuteilt, sind sozusagen Katastrophen auf Raten – Teilzahlungen dafür, dass der Mensch sich der restlichen Natur gegenüber immer zu viel herausgenommen hat und nun eine Quittung nach der anderen dafür bekommt. Cats Strandhaus ist das ultimative Symbol dieser Beziehung – zu Beginn super-instagrammable und begehrenswert, am Ende eine termitenzerfressene Ruine auf überflutetem Land.
Man schwitzt und betrinkt sich
Man lebt halt so lange wie möglich weiter, wie man es gewohnt ist. Na ja, man schwitzt, man dreht die Klimaanlage auf, man betrinkt sich gepflegt, dann geht es schon irgendwie. Der Mensch an sich ist ja sehr anpassungsfähig.
Und auch der Autor ist im Grunde gar nicht so anders als seine Figuren: Auch er macht weiter wie immer, tut das, was er eben kann, und haut einen neuen dezent satirischen Gesellschaftsroman in die Tasten, schwungvoll, gut gebaut und hoch unterhaltsam, nur eben angepasst an die Gegebenheiten. Wer Gegenwartssatire betreiben will, ist heutzutage mit einem leichten Katastrophenmodus gut beraten.
Das spricht absolut nicht gegen, sondern unbedingt für diesen Roman. Denn der andere, reale Katastrophenmodus, derjenige der täglichen Nachrichten, wird auf Dauer langweilig, stumpft uns durch Wiederholung ab und berührt unser tägliches Leben kaum. Aber hier, in diesem ziemlich perfekten Stück gehobener Unterhaltungsliteratur, sehen wir auf einmal, wie Menschen wie wir sich an ihrer prekären Normalität festhalten, wo es gar nichts mehr zum Festhalten gibt.
Da heben wir die Augenbrauen, erkennen uns vielleicht einen Moment lang selbst; und kurz fliegt uns der Gedanke an, ob wir dieses Stadium wohl auch bald erreicht haben werden. Und dann leben wir weiter wie zuvor.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!